Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Nothwendigkeit widerstrebt) nur diejenigen, welche wir
Naturtriebe genannt haben, und zunächst im Neugebor¬
nen der Nahrungstrieb, d. h. das Fortwirken der Idee
über die Organisation hinaus, um mittels allgemeinen
Weltbewußtseins zu finden, und mittels eines durch dies
Finden getriebenen Wollens an sich zu nehmen, was der
Fortbildung des Organismus dient. Im Nahrungstriebe
wirkt beim Kinde die Seele so bewußtlos wie sie wirkte,
indem sie die Ernährungsorgane selbst bildete; erst später¬
hin entwickelt sich auch im Bestreben nach Aufnahme der
Nahrung ein mehr zum Bewußtsein kommendes Empfinden.
Die dritte Stufe endlich wird bezeichnet durch die
Entwicklung des Geistes im hervortretenden
Selbstbewußtsein
, und auf dieser Stufe erst tritt nun
wieder die große Dreigliederung des höhern Seelenlebens
als Erkennen, Fühlen und Wollen mit Deutlichkeit
auseinander. Die Entwicklung der Seele zum Geiste geschieht
aber so wenig als alle andere schlagartig und in einem
Moment, sondern allmählig, und in Maßgabe reicher sich
anhäufender Vorstellungen, und mittels deren Vergleichung
und deren Beurtheilung am Prüfstein der Energie
der eingebornen Idee
. Hier ist es nun wo in Folge
einer Spiegelung des Ich
, d. h. der eigensten
Idee
, in den Vorstellungen von einer Außen¬
welt
, zuerst das Wunder eines Selbstbewußt¬
werdens sich ergibt
, dieses Wunder welches an und
für sich, so wie das Dasein einer Welt überhaupt, nur
anerkannt werden kann, aber keiner weitern Er¬
klärung
fähig ist. Müssen wir aber dies nun auch zu¬
geben, so ist doch eben so in Beziehung auf Selbstwußt¬
sein und Hervortreten des Geistes darauf zu achten, unter
welchen Bedingungen
dieses Wunder sich begibt und
wirklich wird, als wir früher bei Erwägung des Bewußt¬
seins überhaupt beobachten mußten, daß aus Erforschung
der Bedingungen seiner Offenbarung ein so viel helleres

Nothwendigkeit widerſtrebt) nur diejenigen, welche wir
Naturtriebe genannt haben, und zunächſt im Neugebor¬
nen der Nahrungstrieb, d. h. das Fortwirken der Idee
über die Organiſation hinaus, um mittels allgemeinen
Weltbewußtſeins zu finden, und mittels eines durch dies
Finden getriebenen Wollens an ſich zu nehmen, was der
Fortbildung des Organismus dient. Im Nahrungstriebe
wirkt beim Kinde die Seele ſo bewußtlos wie ſie wirkte,
indem ſie die Ernährungsorgane ſelbſt bildete; erſt ſpäter¬
hin entwickelt ſich auch im Beſtreben nach Aufnahme der
Nahrung ein mehr zum Bewußtſein kommendes Empfinden.
Die dritte Stufe endlich wird bezeichnet durch die
Entwicklung des Geiſtes im hervortretenden
Selbſtbewußtſein
, und auf dieſer Stufe erſt tritt nun
wieder die große Dreigliederung des höhern Seelenlebens
als Erkennen, Fühlen und Wollen mit Deutlichkeit
auseinander. Die Entwicklung der Seele zum Geiſte geſchieht
aber ſo wenig als alle andere ſchlagartig und in einem
Moment, ſondern allmählig, und in Maßgabe reicher ſich
anhäufender Vorſtellungen, und mittels deren Vergleichung
und deren Beurtheilung am Prüfſtein der Energie
der eingebornen Idee
. Hier iſt es nun wo in Folge
einer Spiegelung des Ich
, d. h. der eigenſten
Idee
, in den Vorſtellungen von einer Außen¬
welt
, zuerſt das Wunder eines Selbſtbewußt¬
werdens ſich ergibt
, dieſes Wunder welches an und
für ſich, ſo wie das Daſein einer Welt überhaupt, nur
anerkannt werden kann, aber keiner weitern Er¬
klärung
fähig iſt. Müſſen wir aber dies nun auch zu¬
geben, ſo iſt doch eben ſo in Beziehung auf Selbſtwußt¬
ſein und Hervortreten des Geiſtes darauf zu achten, unter
welchen Bedingungen
dieſes Wunder ſich begibt und
wirklich wird, als wir früher bei Erwägung des Bewußt¬
ſeins überhaupt beobachten mußten, daß aus Erforſchung
der Bedingungen ſeiner Offenbarung ein ſo viel helleres

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0172" n="156"/>
Nothwendigkeit wider&#x017F;trebt) nur diejenigen, welche wir<lb/><hi rendition="#g">Naturtriebe</hi> genannt haben, und zunäch&#x017F;t im Neugebor¬<lb/>
nen der <hi rendition="#g">Nahrungstrieb</hi>, d. h. das Fortwirken der Idee<lb/>
über die Organi&#x017F;ation hinaus, um mittels allgemeinen<lb/>
Weltbewußt&#x017F;eins zu finden, und mittels eines durch dies<lb/>
Finden getriebenen Wollens an &#x017F;ich zu nehmen, was der<lb/>
Fortbildung des Organismus dient. Im Nahrungstriebe<lb/>
wirkt beim Kinde die Seele &#x017F;o bewußtlos wie &#x017F;ie wirkte,<lb/>
indem &#x017F;ie die Ernährungsorgane &#x017F;elb&#x017F;t bildete; er&#x017F;t &#x017F;päter¬<lb/>
hin entwickelt &#x017F;ich auch im Be&#x017F;treben nach Aufnahme der<lb/>
Nahrung ein mehr zum Bewußt&#x017F;ein kommendes <hi rendition="#g">Empfinden</hi>.<lb/>
Die <hi rendition="#g">dritte</hi> Stufe endlich wird bezeichnet <hi rendition="#g">durch die<lb/>
Entwicklung des Gei&#x017F;tes im hervortretenden<lb/>
Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;ein</hi>, und auf die&#x017F;er Stufe er&#x017F;t tritt nun<lb/>
wieder die große Dreigliederung des höhern Seelenlebens<lb/>
als <hi rendition="#g">Erkennen</hi>, <hi rendition="#g">Fühlen</hi> und <hi rendition="#g">Wollen</hi> mit Deutlichkeit<lb/>
auseinander. Die Entwicklung der Seele zum Gei&#x017F;te ge&#x017F;chieht<lb/>
aber &#x017F;o wenig als alle andere &#x017F;chlagartig und in <hi rendition="#g">einem</hi><lb/>
Moment, &#x017F;ondern allmählig, und in Maßgabe reicher &#x017F;ich<lb/>
anhäufender Vor&#x017F;tellungen, und mittels deren Vergleichung<lb/>
und deren Beurtheilung am <hi rendition="#g">Prüf&#x017F;tein der Energie<lb/>
der eingebornen Idee</hi>. Hier i&#x017F;t es nun <hi rendition="#g">wo in Folge<lb/>
einer Spiegelung des Ich</hi>, <hi rendition="#g">d</hi>. <hi rendition="#g">h</hi>. <hi rendition="#g">der eigen&#x017F;ten<lb/>
Idee</hi>, <hi rendition="#g">in den Vor&#x017F;tellungen von einer Außen¬<lb/>
welt</hi>, <hi rendition="#g">zuer&#x017F;t das Wunder eines Selb&#x017F;tbewußt¬<lb/>
werdens &#x017F;ich ergibt</hi>, die&#x017F;es Wunder welches an und<lb/>
für &#x017F;ich, &#x017F;o wie das Da&#x017F;ein einer Welt überhaupt, nur<lb/><hi rendition="#g">anerkannt</hi> werden kann, aber <hi rendition="#g">keiner weitern Er¬<lb/>
klärung</hi> fähig i&#x017F;t. Mü&#x017F;&#x017F;en wir aber dies nun auch zu¬<lb/>
geben, &#x017F;o i&#x017F;t doch eben &#x017F;o in Beziehung auf Selb&#x017F;twußt¬<lb/>
&#x017F;ein und Hervortreten des Gei&#x017F;tes darauf zu achten, <hi rendition="#g">unter<lb/>
welchen Bedingungen</hi> die&#x017F;es Wunder &#x017F;ich begibt und<lb/>
wirklich wird, als wir früher bei Erwägung des Bewußt¬<lb/>
&#x017F;eins überhaupt beobachten mußten, daß aus Erfor&#x017F;chung<lb/>
der <hi rendition="#g">Bedingungen</hi> &#x017F;einer Offenbarung ein &#x017F;o viel helleres<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[156/0172] Nothwendigkeit widerſtrebt) nur diejenigen, welche wir Naturtriebe genannt haben, und zunächſt im Neugebor¬ nen der Nahrungstrieb, d. h. das Fortwirken der Idee über die Organiſation hinaus, um mittels allgemeinen Weltbewußtſeins zu finden, und mittels eines durch dies Finden getriebenen Wollens an ſich zu nehmen, was der Fortbildung des Organismus dient. Im Nahrungstriebe wirkt beim Kinde die Seele ſo bewußtlos wie ſie wirkte, indem ſie die Ernährungsorgane ſelbſt bildete; erſt ſpäter¬ hin entwickelt ſich auch im Beſtreben nach Aufnahme der Nahrung ein mehr zum Bewußtſein kommendes Empfinden. Die dritte Stufe endlich wird bezeichnet durch die Entwicklung des Geiſtes im hervortretenden Selbſtbewußtſein, und auf dieſer Stufe erſt tritt nun wieder die große Dreigliederung des höhern Seelenlebens als Erkennen, Fühlen und Wollen mit Deutlichkeit auseinander. Die Entwicklung der Seele zum Geiſte geſchieht aber ſo wenig als alle andere ſchlagartig und in einem Moment, ſondern allmählig, und in Maßgabe reicher ſich anhäufender Vorſtellungen, und mittels deren Vergleichung und deren Beurtheilung am Prüfſtein der Energie der eingebornen Idee. Hier iſt es nun wo in Folge einer Spiegelung des Ich, d. h. der eigenſten Idee, in den Vorſtellungen von einer Außen¬ welt, zuerſt das Wunder eines Selbſtbewußt¬ werdens ſich ergibt, dieſes Wunder welches an und für ſich, ſo wie das Daſein einer Welt überhaupt, nur anerkannt werden kann, aber keiner weitern Er¬ klärung fähig iſt. Müſſen wir aber dies nun auch zu¬ geben, ſo iſt doch eben ſo in Beziehung auf Selbſtwußt¬ ſein und Hervortreten des Geiſtes darauf zu achten, unter welchen Bedingungen dieſes Wunder ſich begibt und wirklich wird, als wir früher bei Erwägung des Bewußt¬ ſeins überhaupt beobachten mußten, daß aus Erforſchung der Bedingungen ſeiner Offenbarung ein ſo viel helleres

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/172
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/172>, abgerufen am 29.04.2024.