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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Kriterium der staatlichen Gemeinschaft".1) Um sich vorzustellen, was
es mit dieser "Übertragung", mit dieser "Aufhebung der individuellen
Selbständigkeit" auf sich hat, muss man sich die unbändige individuelle
Freiheitsliebe des einzelnen Römers ins Gedächtnis zurückrufen. Von
dem ältesten rechtlichen Monument der Römer, den berühmten zwölf
ehernen Tafeln (450 vor Chr.) sagt Esmarch: "Was zum präg-
nantesten Ausdruck darin kommt, sind die Gewährleistungen der
privatrechtlichen Selbstherrlichkeit der römischen Bürger",2) und als
350 Jahre später das erste ausführliche Rechtssystem in schriftlicher
Form verfasst wurde, da hatten alle Stürme der Zwischenzeit in diesem
einen Punkte keinen Unterschied veranlasst.3) Als freier, "selbstherr-
licher" Mann überträgt also der Römer an den Gesamtwillen, dessen
selbstthätiges Glied er ist, so viel von seiner Freiheit, als zur Ver-
teidigung dieser Freiheit vonnöten ist. "Der Gesamtwille ist nun an
sich, wenn es gestattet ist, einen Ausdruck des römischen Privatrechts
darauf anzuwenden, eine staatsrechtliche Fiktion. Thatsächlich wird
dafür Vertretung erfordert. Als Willenshandlung der Gesamtheit gilt
staatsrechtlich diejenige eines in dem bestimmten Fall für sie ein-
tretenden Mannes. Immer ist die staatliche Willenshandlung in Rom
die Handlung eines einzelnen Mannes, da das Wollen und Handeln
an sich unteilbar ist; Gemeindehandlung durch Majoritäts-
beschluss ist nach römischer Auffassung ein Widerspruch
im Beisatz.
" In jedem Satz dieses römischen Staatsrechtes sieht
man ein Volk von starken, freien Männern: die Vertretung der ge-
meinsamen Sache, d. h. des Staates, wird einzelnen Männern (Konsuln,
Prätoren, Censoren u. s. w.) auf bestimmte Zeit anvertraut, sie haben
dabei grösste Vollmacht und tragen volle Verantwortlichkeit. Im Not-
falle geht diese Vollmachtserteilung so weit, dass sich die Bürger einen
Diktator ernennen; alles im Interesse des Gemeinwesens und damit
die Freiheit eines jeden unverletzt bleibe. -- Die späteren Kaiser nun,
oder vielmehr ihre Ratgeber, haben nicht etwa diesen Staatsbegriff
umgestossen; nein, auf ihn haben sie die monarchische Allgewalt
rechtlich gegründet, was in der Geschichte der Welt noch
niemals geschehen war. Anderwärts hatten einige Despoten als Götter-

1) Ich citiere nach der gekürzten Ausgabe des Römischen Staatsrechts in
Binding's Systematisches Handbuch der deutschen Rechtswissenschaft, S. 81 ff.
2) Römische Rechtsgeschichte, 3. Aufl., S. 218.
3) Allerdings bildeten gewisse Beschränkungen der Freiheit des Testierens
ein erstes Anzeichen künftiger Zeiten.

Das Erbe der alten Welt.
Kriterium der staatlichen Gemeinschaft«.1) Um sich vorzustellen, was
es mit dieser »Übertragung«, mit dieser »Aufhebung der individuellen
Selbständigkeit« auf sich hat, muss man sich die unbändige individuelle
Freiheitsliebe des einzelnen Römers ins Gedächtnis zurückrufen. Von
dem ältesten rechtlichen Monument der Römer, den berühmten zwölf
ehernen Tafeln (450 vor Chr.) sagt Esmarch: »Was zum präg-
nantesten Ausdruck darin kommt, sind die Gewährleistungen der
privatrechtlichen Selbstherrlichkeit der römischen Bürger«,2) und als
350 Jahre später das erste ausführliche Rechtssystem in schriftlicher
Form verfasst wurde, da hatten alle Stürme der Zwischenzeit in diesem
einen Punkte keinen Unterschied veranlasst.3) Als freier, »selbstherr-
licher« Mann überträgt also der Römer an den Gesamtwillen, dessen
selbstthätiges Glied er ist, so viel von seiner Freiheit, als zur Ver-
teidigung dieser Freiheit vonnöten ist. »Der Gesamtwille ist nun an
sich, wenn es gestattet ist, einen Ausdruck des römischen Privatrechts
darauf anzuwenden, eine staatsrechtliche Fiktion. Thatsächlich wird
dafür Vertretung erfordert. Als Willenshandlung der Gesamtheit gilt
staatsrechtlich diejenige eines in dem bestimmten Fall für sie ein-
tretenden Mannes. Immer ist die staatliche Willenshandlung in Rom
die Handlung eines einzelnen Mannes, da das Wollen und Handeln
an sich unteilbar ist; Gemeindehandlung durch Majoritäts-
beschluss ist nach römischer Auffassung ein Widerspruch
im Beisatz.
« In jedem Satz dieses römischen Staatsrechtes sieht
man ein Volk von starken, freien Männern: die Vertretung der ge-
meinsamen Sache, d. h. des Staates, wird einzelnen Männern (Konsuln,
Prätoren, Censoren u. s. w.) auf bestimmte Zeit anvertraut, sie haben
dabei grösste Vollmacht und tragen volle Verantwortlichkeit. Im Not-
falle geht diese Vollmachtserteilung so weit, dass sich die Bürger einen
Diktator ernennen; alles im Interesse des Gemeinwesens und damit
die Freiheit eines jeden unverletzt bleibe. — Die späteren Kaiser nun,
oder vielmehr ihre Ratgeber, haben nicht etwa diesen Staatsbegriff
umgestossen; nein, auf ihn haben sie die monarchische Allgewalt
rechtlich gegründet, was in der Geschichte der Welt noch
niemals geschehen war. Anderwärts hatten einige Despoten als Götter-

1) Ich citiere nach der gekürzten Ausgabe des Römischen Staatsrechts in
Binding’s Systematisches Handbuch der deutschen Rechtswissenschaft, S. 81 ff.
2) Römische Rechtsgeschichte, 3. Aufl., S. 218.
3) Allerdings bildeten gewisse Beschränkungen der Freiheit des Testierens
ein erstes Anzeichen künftiger Zeiten.
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[152/0175] Das Erbe der alten Welt. Kriterium der staatlichen Gemeinschaft«. 1) Um sich vorzustellen, was es mit dieser »Übertragung«, mit dieser »Aufhebung der individuellen Selbständigkeit« auf sich hat, muss man sich die unbändige individuelle Freiheitsliebe des einzelnen Römers ins Gedächtnis zurückrufen. Von dem ältesten rechtlichen Monument der Römer, den berühmten zwölf ehernen Tafeln (450 vor Chr.) sagt Esmarch: »Was zum präg- nantesten Ausdruck darin kommt, sind die Gewährleistungen der privatrechtlichen Selbstherrlichkeit der römischen Bürger«, 2) und als 350 Jahre später das erste ausführliche Rechtssystem in schriftlicher Form verfasst wurde, da hatten alle Stürme der Zwischenzeit in diesem einen Punkte keinen Unterschied veranlasst. 3) Als freier, »selbstherr- licher« Mann überträgt also der Römer an den Gesamtwillen, dessen selbstthätiges Glied er ist, so viel von seiner Freiheit, als zur Ver- teidigung dieser Freiheit vonnöten ist. »Der Gesamtwille ist nun an sich, wenn es gestattet ist, einen Ausdruck des römischen Privatrechts darauf anzuwenden, eine staatsrechtliche Fiktion. Thatsächlich wird dafür Vertretung erfordert. Als Willenshandlung der Gesamtheit gilt staatsrechtlich diejenige eines in dem bestimmten Fall für sie ein- tretenden Mannes. Immer ist die staatliche Willenshandlung in Rom die Handlung eines einzelnen Mannes, da das Wollen und Handeln an sich unteilbar ist; Gemeindehandlung durch Majoritäts- beschluss ist nach römischer Auffassung ein Widerspruch im Beisatz.« In jedem Satz dieses römischen Staatsrechtes sieht man ein Volk von starken, freien Männern: die Vertretung der ge- meinsamen Sache, d. h. des Staates, wird einzelnen Männern (Konsuln, Prätoren, Censoren u. s. w.) auf bestimmte Zeit anvertraut, sie haben dabei grösste Vollmacht und tragen volle Verantwortlichkeit. Im Not- falle geht diese Vollmachtserteilung so weit, dass sich die Bürger einen Diktator ernennen; alles im Interesse des Gemeinwesens und damit die Freiheit eines jeden unverletzt bleibe. — Die späteren Kaiser nun, oder vielmehr ihre Ratgeber, haben nicht etwa diesen Staatsbegriff umgestossen; nein, auf ihn haben sie die monarchische Allgewalt rechtlich gegründet, was in der Geschichte der Welt noch niemals geschehen war. Anderwärts hatten einige Despoten als Götter- 1) Ich citiere nach der gekürzten Ausgabe des Römischen Staatsrechts in Binding’s Systematisches Handbuch der deutschen Rechtswissenschaft, S. 81 ff. 2) Römische Rechtsgeschichte, 3. Aufl., S. 218. 3) Allerdings bildeten gewisse Beschränkungen der Freiheit des Testierens ein erstes Anzeichen künftiger Zeiten.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/175>, abgerufen am 27.04.2024.