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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
offenbar vor aller Augen, dass jeder Nachweis überflüssig ist. Schopen-
hauer behauptet: "Der wahre Nationalcharakter der Deutschen ist
Schwerfälligkeit". Dem deutschen Geist stehen für die Rechtsbildung
seine grosse Gaben ebenfalls im Wege: seine unvergleichliche Phantasie
(im Gegensatz zur platten Empirie der römischen Vorstellungswelt),
die schöpferische Leidenschaftlichkeit seines Gemütes (im Gegensatz
zur kühlen Nüchternheit des Römers), seine wissenschaftliche Tiefe
(im Gegensatz zu den praktisch politischen Tendenzen des geborenen
Rechtsvolkes), sein lebhaftes Gefühl für Billigkeit (immer in gesell-
schaftlicher Beziehung ein schwankes Rohr im Vergleich zur streng-
rechtlichen Auffassung der Römer). Nein, dieses Volk wäre nicht
befähigt gewesen, die Technik des Rechtes zu hoher Vollkommenheit
auszubilden; es gleicht zu sehr den alten Indoariern, deren "gänzlicher
Mangel des juristischen Unterscheidungsvermögens" von Jhering in
seiner Vorgeschichte der Indoeuropäer, § 15, dargethan wird.

Die Familie.

Noch einen solchen nationalen Vergleich in Bezug auf Rechts-
bildung möchte ich anstellen, den zwischen Hellenen und Römern.
Er deckt den Kernpunkt des römischen Rechtes auf, den einzigen,
auf den ich hier, in diesem Buche, die besondere Aufmerksamkeit
lenken darf, was aber schon genügen wird, um fühlbar zu machen,
wie tief innerlich unsere Civilisation der römischen Erbschaft ver-
pflichtet ist. Zugleich wird diese kurze Betrachtung, die bei den Ur-
anfängen anknüpft, uns in die brennenden Fragen unsrer unmittel-
baren Gegenwart hineinführen.

Jeder Gebildete weiss, dass die Griechen nicht allein grosse
Politiker, sondern ebenfalls grosse Rechtstheoretiker waren. Der
"Prozess um des Esels Schatten" 1) ist ein uralter attischer Witz, der
die Vorliebe dieses leichtsinnigen, händelsüchtigen Volkes für gericht-
liche Klagen trefflich verhöhnt; ich erinnere auch an die Wespen
des Aristophanes mit den herzzerreissenden Bitten des von seinem
Sohne eingeschlossenen Philokleon: "Lasst mich hinaus, lasst mich
hinaus -- zum Richten!" Man sehe sich aber noch weiter um.
Homer lässt auf dem Schilde des Achilleus eine Gerichtsszene ab-
gebildet sein (Ilias, XVIII, Vers 497 ff.), Plato's umfangreichste Werke
sind politische und rechtstheoretische (Die Republik und die Ge-

1) Ein Athener mietet einen Esel, um sein Gepäck nach Megara zu tragen;
bei einer Rast setzt er sich in des Esels Schatten nieder; der Eseltreiber will es
ohne Extrabezahlung nicht zugeben, er habe den Esel, nicht aber des Esels
Schatten vermietet.

Das Erbe der alten Welt.
offenbar vor aller Augen, dass jeder Nachweis überflüssig ist. Schopen-
hauer behauptet: »Der wahre Nationalcharakter der Deutschen ist
Schwerfälligkeit«. Dem deutschen Geist stehen für die Rechtsbildung
seine grosse Gaben ebenfalls im Wege: seine unvergleichliche Phantasie
(im Gegensatz zur platten Empirie der römischen Vorstellungswelt),
die schöpferische Leidenschaftlichkeit seines Gemütes (im Gegensatz
zur kühlen Nüchternheit des Römers), seine wissenschaftliche Tiefe
(im Gegensatz zu den praktisch politischen Tendenzen des geborenen
Rechtsvolkes), sein lebhaftes Gefühl für Billigkeit (immer in gesell-
schaftlicher Beziehung ein schwankes Rohr im Vergleich zur streng-
rechtlichen Auffassung der Römer). Nein, dieses Volk wäre nicht
befähigt gewesen, die Technik des Rechtes zu hoher Vollkommenheit
auszubilden; es gleicht zu sehr den alten Indoariern, deren »gänzlicher
Mangel des juristischen Unterscheidungsvermögens« von Jhering in
seiner Vorgeschichte der Indoeuropäer, § 15, dargethan wird.

Die Familie.

Noch einen solchen nationalen Vergleich in Bezug auf Rechts-
bildung möchte ich anstellen, den zwischen Hellenen und Römern.
Er deckt den Kernpunkt des römischen Rechtes auf, den einzigen,
auf den ich hier, in diesem Buche, die besondere Aufmerksamkeit
lenken darf, was aber schon genügen wird, um fühlbar zu machen,
wie tief innerlich unsere Civilisation der römischen Erbschaft ver-
pflichtet ist. Zugleich wird diese kurze Betrachtung, die bei den Ur-
anfängen anknüpft, uns in die brennenden Fragen unsrer unmittel-
baren Gegenwart hineinführen.

Jeder Gebildete weiss, dass die Griechen nicht allein grosse
Politiker, sondern ebenfalls grosse Rechtstheoretiker waren. Der
»Prozess um des Esels Schatten« 1) ist ein uralter attischer Witz, der
die Vorliebe dieses leichtsinnigen, händelsüchtigen Volkes für gericht-
liche Klagen trefflich verhöhnt; ich erinnere auch an die Wespen
des Aristophanes mit den herzzerreissenden Bitten des von seinem
Sohne eingeschlossenen Philokleon: »Lasst mich hinaus, lasst mich
hinaus — zum Richten!« Man sehe sich aber noch weiter um.
Homer lässt auf dem Schilde des Achilleus eine Gerichtsszene ab-
gebildet sein (Ilias, XVIII, Vers 497 ff.), Plato’s umfangreichste Werke
sind politische und rechtstheoretische (Die Republik und die Ge-

1) Ein Athener mietet einen Esel, um sein Gepäck nach Megara zu tragen;
bei einer Rast setzt er sich in des Esels Schatten nieder; der Eseltreiber will es
ohne Extrabezahlung nicht zugeben, er habe den Esel, nicht aber des Esels
Schatten vermietet.
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[172/0195] Das Erbe der alten Welt. offenbar vor aller Augen, dass jeder Nachweis überflüssig ist. Schopen- hauer behauptet: »Der wahre Nationalcharakter der Deutschen ist Schwerfälligkeit«. Dem deutschen Geist stehen für die Rechtsbildung seine grosse Gaben ebenfalls im Wege: seine unvergleichliche Phantasie (im Gegensatz zur platten Empirie der römischen Vorstellungswelt), die schöpferische Leidenschaftlichkeit seines Gemütes (im Gegensatz zur kühlen Nüchternheit des Römers), seine wissenschaftliche Tiefe (im Gegensatz zu den praktisch politischen Tendenzen des geborenen Rechtsvolkes), sein lebhaftes Gefühl für Billigkeit (immer in gesell- schaftlicher Beziehung ein schwankes Rohr im Vergleich zur streng- rechtlichen Auffassung der Römer). Nein, dieses Volk wäre nicht befähigt gewesen, die Technik des Rechtes zu hoher Vollkommenheit auszubilden; es gleicht zu sehr den alten Indoariern, deren »gänzlicher Mangel des juristischen Unterscheidungsvermögens« von Jhering in seiner Vorgeschichte der Indoeuropäer, § 15, dargethan wird. Noch einen solchen nationalen Vergleich in Bezug auf Rechts- bildung möchte ich anstellen, den zwischen Hellenen und Römern. Er deckt den Kernpunkt des römischen Rechtes auf, den einzigen, auf den ich hier, in diesem Buche, die besondere Aufmerksamkeit lenken darf, was aber schon genügen wird, um fühlbar zu machen, wie tief innerlich unsere Civilisation der römischen Erbschaft ver- pflichtet ist. Zugleich wird diese kurze Betrachtung, die bei den Ur- anfängen anknüpft, uns in die brennenden Fragen unsrer unmittel- baren Gegenwart hineinführen. Jeder Gebildete weiss, dass die Griechen nicht allein grosse Politiker, sondern ebenfalls grosse Rechtstheoretiker waren. Der »Prozess um des Esels Schatten« 1) ist ein uralter attischer Witz, der die Vorliebe dieses leichtsinnigen, händelsüchtigen Volkes für gericht- liche Klagen trefflich verhöhnt; ich erinnere auch an die Wespen des Aristophanes mit den herzzerreissenden Bitten des von seinem Sohne eingeschlossenen Philokleon: »Lasst mich hinaus, lasst mich hinaus — zum Richten!« Man sehe sich aber noch weiter um. Homer lässt auf dem Schilde des Achilleus eine Gerichtsszene ab- gebildet sein (Ilias, XVIII, Vers 497 ff.), Plato’s umfangreichste Werke sind politische und rechtstheoretische (Die Republik und die Ge- 1) Ein Athener mietet einen Esel, um sein Gepäck nach Megara zu tragen; bei einer Rast setzt er sich in des Esels Schatten nieder; der Eseltreiber will es ohne Extrabezahlung nicht zugeben, er habe den Esel, nicht aber des Esels Schatten vermietet.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/195>, abgerufen am 28.04.2024.