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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
setze), die Rhetorik des Aristoteles ist stellenweise einfach ein Hand-
buch für angehende Rechtsanwälte, man sehe z. B., wie er im
15. Kapitel des ersten Buches eine ausführliche Theorie betrügerischer
Sophistik für Winkeladvokaten aufstellt, ihnen Andeutungen giebt,
wie sie das Gesetz zum Vorteil ihres Klienten verdrehen können, und
ihnen rät, vor Gericht, sobald es Vorteil bringt, falsche Eide schwören
zu lassen. 1) -- -- -- Man sieht, ausserhalb Spartas (wo es nach
Plutarch's Versicherung gar keine Prozesse gegeben haben soll) war
die hellenische Luft von Rechtsfragen geschwängert. Die Römer,
stets bereit, fremdes Verdienst anzuerkennen, wandten sich behufs
Ratschläge für den Ausbau ihres Rechtes seit Alters her an die
Griechen, namentlich an die Athener. Schon als sie das erste Mal
ihre rechtlichen Grundprinzipien schriftlich fixieren wollten (in den
zwölf Tafeln), entsandten sie eine Kommission nach Griechenland, und
bei der endgültigen Redaktion dieses frühesten Monumentes soll ein
aus seiner Vaterstadt verbannter Ephesier, Hermodorus, wesentliche
Dienste geleistet haben. Hieran änderte die Zeit nichts. Die grossen
Rechtsautoritäten, ein Mucius Scaevola, ein Servius Sulpicius
sind genaue Kenner hellenischer Rechtseinrichtungen; Cicero und
was alles an diesem Namen drum und dran hängt, zieht seine un-
klaren Äusserungen über göttliche Gerechtigkeit, natürliches Recht u. s. w.
aus griechischen Philosophen: in dem pseudo-platonischen Minos hatte
er lesen können, das Recht sei die Entdeckung eines ausserhalb
Liegenden, nicht eine menschliche Erfindung, und von Aristoteles
citiert er die Worte: "das allgemeine Gesetz, weil es das natürliche
ist, wechselt nie, dagegen geschieht das oft beim geschriebenen"; 2)
in der späteren Zeit kaiserlicher Dekadenz, als das römische Volk von
der Erdfläche verschwunden war, wird die sogenannte "klassische
Jurisprudenz" fast ausschliesslich von Griechen (mehr oder weniger

1) Dies gehört, nach dem grossen Philosophen, zu den "ausserhalb der
Kunst liegenden Überzeugungsmitteln".
2) Noch bis zum heutigen Tage findet man diese Stelle in juristischen
Werken citiert, jedoch mit wenig Recht, da Aristoteles hier bloss einen rhetorischen
Kniff zum Gebrauch vor Gericht angiebt und auf der nächsten Seite die An-
wendung der gegenteiligen Behauptung lehrt. Noch weniger zur Sache ist die
Stelle aus der Nikomachischen Ethik V, 7, die in dem Satze gipfelt: "Das Recht
ist die Mitte zwischen einem gewissen Vorteil und einem gewissen Nachteil".
Wie gross erscheint nicht hier wie immer Demokrit mit seiner klaren Einsicht:
die Gesetze seien Früchte menschlichen Sinnens im Gegensatze zu den Dingen
der Natur (Diogenes Laer. IX, 45)!

Römisches Recht.
setze), die Rhetorik des Aristoteles ist stellenweise einfach ein Hand-
buch für angehende Rechtsanwälte, man sehe z. B., wie er im
15. Kapitel des ersten Buches eine ausführliche Theorie betrügerischer
Sophistik für Winkeladvokaten aufstellt, ihnen Andeutungen giebt,
wie sie das Gesetz zum Vorteil ihres Klienten verdrehen können, und
ihnen rät, vor Gericht, sobald es Vorteil bringt, falsche Eide schwören
zu lassen. 1) — — — Man sieht, ausserhalb Spartas (wo es nach
Plutarch’s Versicherung gar keine Prozesse gegeben haben soll) war
die hellenische Luft von Rechtsfragen geschwängert. Die Römer,
stets bereit, fremdes Verdienst anzuerkennen, wandten sich behufs
Ratschläge für den Ausbau ihres Rechtes seit Alters her an die
Griechen, namentlich an die Athener. Schon als sie das erste Mal
ihre rechtlichen Grundprinzipien schriftlich fixieren wollten (in den
zwölf Tafeln), entsandten sie eine Kommission nach Griechenland, und
bei der endgültigen Redaktion dieses frühesten Monumentes soll ein
aus seiner Vaterstadt verbannter Ephesier, Hermodorus, wesentliche
Dienste geleistet haben. Hieran änderte die Zeit nichts. Die grossen
Rechtsautoritäten, ein Mucius Scaevola, ein Servius Sulpicius
sind genaue Kenner hellenischer Rechtseinrichtungen; Cicero und
was alles an diesem Namen drum und dran hängt, zieht seine un-
klaren Äusserungen über göttliche Gerechtigkeit, natürliches Recht u. s. w.
aus griechischen Philosophen: in dem pseudo-platonischen Minos hatte
er lesen können, das Recht sei die Entdeckung eines ausserhalb
Liegenden, nicht eine menschliche Erfindung, und von Aristoteles
citiert er die Worte: »das allgemeine Gesetz, weil es das natürliche
ist, wechselt nie, dagegen geschieht das oft beim geschriebenen«; 2)
in der späteren Zeit kaiserlicher Dekadenz, als das römische Volk von
der Erdfläche verschwunden war, wird die sogenannte »klassische
Jurisprudenz« fast ausschliesslich von Griechen (mehr oder weniger

1) Dies gehört, nach dem grossen Philosophen, zu den »ausserhalb der
Kunst liegenden Überzeugungsmitteln«.
2) Noch bis zum heutigen Tage findet man diese Stelle in juristischen
Werken citiert, jedoch mit wenig Recht, da Aristoteles hier bloss einen rhetorischen
Kniff zum Gebrauch vor Gericht angiebt und auf der nächsten Seite die An-
wendung der gegenteiligen Behauptung lehrt. Noch weniger zur Sache ist die
Stelle aus der Nikomachischen Ethik V, 7, die in dem Satze gipfelt: »Das Recht
ist die Mitte zwischen einem gewissen Vorteil und einem gewissen Nachteil«.
Wie gross erscheint nicht hier wie immer Demokrit mit seiner klaren Einsicht:
die Gesetze seien Früchte menschlichen Sinnens im Gegensatze zu den Dingen
der Natur (Diogenes Laer. IX, 45)!
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[173/0196] Römisches Recht. setze), die Rhetorik des Aristoteles ist stellenweise einfach ein Hand- buch für angehende Rechtsanwälte, man sehe z. B., wie er im 15. Kapitel des ersten Buches eine ausführliche Theorie betrügerischer Sophistik für Winkeladvokaten aufstellt, ihnen Andeutungen giebt, wie sie das Gesetz zum Vorteil ihres Klienten verdrehen können, und ihnen rät, vor Gericht, sobald es Vorteil bringt, falsche Eide schwören zu lassen. 1) — — — Man sieht, ausserhalb Spartas (wo es nach Plutarch’s Versicherung gar keine Prozesse gegeben haben soll) war die hellenische Luft von Rechtsfragen geschwängert. Die Römer, stets bereit, fremdes Verdienst anzuerkennen, wandten sich behufs Ratschläge für den Ausbau ihres Rechtes seit Alters her an die Griechen, namentlich an die Athener. Schon als sie das erste Mal ihre rechtlichen Grundprinzipien schriftlich fixieren wollten (in den zwölf Tafeln), entsandten sie eine Kommission nach Griechenland, und bei der endgültigen Redaktion dieses frühesten Monumentes soll ein aus seiner Vaterstadt verbannter Ephesier, Hermodorus, wesentliche Dienste geleistet haben. Hieran änderte die Zeit nichts. Die grossen Rechtsautoritäten, ein Mucius Scaevola, ein Servius Sulpicius sind genaue Kenner hellenischer Rechtseinrichtungen; Cicero und was alles an diesem Namen drum und dran hängt, zieht seine un- klaren Äusserungen über göttliche Gerechtigkeit, natürliches Recht u. s. w. aus griechischen Philosophen: in dem pseudo-platonischen Minos hatte er lesen können, das Recht sei die Entdeckung eines ausserhalb Liegenden, nicht eine menschliche Erfindung, und von Aristoteles citiert er die Worte: »das allgemeine Gesetz, weil es das natürliche ist, wechselt nie, dagegen geschieht das oft beim geschriebenen«; 2) in der späteren Zeit kaiserlicher Dekadenz, als das römische Volk von der Erdfläche verschwunden war, wird die sogenannte »klassische Jurisprudenz« fast ausschliesslich von Griechen (mehr oder weniger 1) Dies gehört, nach dem grossen Philosophen, zu den »ausserhalb der Kunst liegenden Überzeugungsmitteln«. 2) Noch bis zum heutigen Tage findet man diese Stelle in juristischen Werken citiert, jedoch mit wenig Recht, da Aristoteles hier bloss einen rhetorischen Kniff zum Gebrauch vor Gericht angiebt und auf der nächsten Seite die An- wendung der gegenteiligen Behauptung lehrt. Noch weniger zur Sache ist die Stelle aus der Nikomachischen Ethik V, 7, die in dem Satze gipfelt: »Das Recht ist die Mitte zwischen einem gewissen Vorteil und einem gewissen Nachteil«. Wie gross erscheint nicht hier wie immer Demokrit mit seiner klaren Einsicht: die Gesetze seien Früchte menschlichen Sinnens im Gegensatze zu den Dingen der Natur (Diogenes Laer. IX, 45)!

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/196>, abgerufen am 28.04.2024.