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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
lichste aller Grundlagen, das Germanentum, deutlich hingestellt habe.
Ich thäte es, wüsste ich ein Buch, auf welches ich meinen Freund
und Kollegen, den ungelehrten Leser, für eine Orientirung über die
Entwickelung des Germanentums bis zum Jahre 1800, entworfen in
dem von mir gemeinten umfassenden und zugleich durchaus indivi-
dualisierten Sinne verweisen könnte. Ich kenne aber keines. Dass eine
politische Geschichte nicht hinreicht, liegt auf der Hand: das wäre das-
selbe, als wenn ein Physiolog sich mit der Kenntnis der Osteologie be-
gnügen wollte. Fast noch verkehrter für gedachten Zweck sind die in
letzter Zeit aufgekommenen Kulturgeschichten, in denen die Dichter
und Denker als Lenker hingestellt, die politischen Gestaltungen dagegen
ganz ausser Acht gelassen werden: das heisst einen Körper schildern
ohne Berücksichtigung des zu Grunde liegenden Knochenbaues. Auch
behandeln die ernst zu nehmenden Bücher dieser Art meist nur
bestimmte Abschnitte -- wie das 16. und 17. Jahrhundert von Karl
Grün, die Renaissance von Burckhardt, das Zeitalter Ludwig's des XIV.
von Voltaire, u. s. w., oder begrenzte Gebiete -- wie Buckle's Civili-
sation in England
(eigentlich in Spanien, Schottland und Frankreich),
Rambaud's Civilisation Francaise, Henne am Rhyn's Kulturgeschichte
der Juden
u. s. w., oder wiederum besondere Erscheinungen --
wie Draper's Intellectual Development of Europe, Lecky's Rationalism
in Europe
u. s. w. Die hierher gehörige Litteratur ist sehr gross,
doch erblicke ich darin kein Werk, welches die Entwickelung des
gesamten Germanentums darstellt, als das eines lebendigen, individuellen
Organismus, bei dem alle Lebenserscheinungen -- Politik, Religion,
Wirtschaft, Industrie, Kunst u. s. w. -- organisch mit einander ver-
knüpft sind. Am ehesten würde Karl Lamprecht's umfassend angelegte
Deutsche Geschichte meinem Desideratum entsprechen, aber sie ist
leider nur eine "deutsche" Geschichte, behandelt also nur ein Fragment
des Germanentums. Gerade bei einem solchen Werk sieht man ein,
wie misslich die Verwechslung zwischen Germanisch und Deutsch ist;
sie verwirrt Alles. Denn die direkte Anknüpfung der Deutschen allein
an die alten Germanen verdeckt die Thatsache, dass der nicht-deutsche
Norden Europa's fast rein germanisch ist im engsten Sinne des Wortes,
und es lässt uns übersehen, dass gerade in Deutschland, im Mittelpunkt
Europa's, die Verschmelzung der drei Zweige -- Kelten, Germanen,
Slaven -- stattfand, wodurch dieses Volk seine besondere National-
färbung und den Reichtum seiner Anlagen erhielt; ausserdem verliert
man den bis zur Revolution vorwiegend germanischen Charakter

Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
lichste aller Grundlagen, das Germanentum, deutlich hingestellt habe.
Ich thäte es, wüsste ich ein Buch, auf welches ich meinen Freund
und Kollegen, den ungelehrten Leser, für eine Orientirung über die
Entwickelung des Germanentums bis zum Jahre 1800, entworfen in
dem von mir gemeinten umfassenden und zugleich durchaus indivi-
dualisierten Sinne verweisen könnte. Ich kenne aber keines. Dass eine
politische Geschichte nicht hinreicht, liegt auf der Hand: das wäre das-
selbe, als wenn ein Physiolog sich mit der Kenntnis der Osteologie be-
gnügen wollte. Fast noch verkehrter für gedachten Zweck sind die in
letzter Zeit aufgekommenen Kulturgeschichten, in denen die Dichter
und Denker als Lenker hingestellt, die politischen Gestaltungen dagegen
ganz ausser Acht gelassen werden: das heisst einen Körper schildern
ohne Berücksichtigung des zu Grunde liegenden Knochenbaues. Auch
behandeln die ernst zu nehmenden Bücher dieser Art meist nur
bestimmte Abschnitte — wie das 16. und 17. Jahrhundert von Karl
Grün, die Renaissance von Burckhardt, das Zeitalter Ludwig’s des XIV.
von Voltaire, u. s. w., oder begrenzte Gebiete — wie Buckle’s Civili-
sation in England
(eigentlich in Spanien, Schottland und Frankreich),
Rambaud’s Civilisation Française, Henne am Rhyn’s Kulturgeschichte
der Juden
u. s. w., oder wiederum besondere Erscheinungen —
wie Draper’s Intellectual Development of Europe, Lecky’s Rationalism
in Europe
u. s. w. Die hierher gehörige Litteratur ist sehr gross,
doch erblicke ich darin kein Werk, welches die Entwickelung des
gesamten Germanentums darstellt, als das eines lebendigen, individuellen
Organismus, bei dem alle Lebenserscheinungen — Politik, Religion,
Wirtschaft, Industrie, Kunst u. s. w. — organisch mit einander ver-
knüpft sind. Am ehesten würde Karl Lamprecht’s umfassend angelegte
Deutsche Geschichte meinem Desideratum entsprechen, aber sie ist
leider nur eine »deutsche« Geschichte, behandelt also nur ein Fragment
des Germanentums. Gerade bei einem solchen Werk sieht man ein,
wie misslich die Verwechslung zwischen Germanisch und Deutsch ist;
sie verwirrt Alles. Denn die direkte Anknüpfung der Deutschen allein
an die alten Germanen verdeckt die Thatsache, dass der nicht-deutsche
Norden Europa’s fast rein germanisch ist im engsten Sinne des Wortes,
und es lässt uns übersehen, dass gerade in Deutschland, im Mittelpunkt
Europa’s, die Verschmelzung der drei Zweige — Kelten, Germanen,
Slaven — stattfand, wodurch dieses Volk seine besondere National-
färbung und den Reichtum seiner Anlagen erhielt; ausserdem verliert
man den bis zur Revolution vorwiegend germanischen Charakter

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[727/0206] Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur. lichste aller Grundlagen, das Germanentum, deutlich hingestellt habe. Ich thäte es, wüsste ich ein Buch, auf welches ich meinen Freund und Kollegen, den ungelehrten Leser, für eine Orientirung über die Entwickelung des Germanentums bis zum Jahre 1800, entworfen in dem von mir gemeinten umfassenden und zugleich durchaus indivi- dualisierten Sinne verweisen könnte. Ich kenne aber keines. Dass eine politische Geschichte nicht hinreicht, liegt auf der Hand: das wäre das- selbe, als wenn ein Physiolog sich mit der Kenntnis der Osteologie be- gnügen wollte. Fast noch verkehrter für gedachten Zweck sind die in letzter Zeit aufgekommenen Kulturgeschichten, in denen die Dichter und Denker als Lenker hingestellt, die politischen Gestaltungen dagegen ganz ausser Acht gelassen werden: das heisst einen Körper schildern ohne Berücksichtigung des zu Grunde liegenden Knochenbaues. Auch behandeln die ernst zu nehmenden Bücher dieser Art meist nur bestimmte Abschnitte — wie das 16. und 17. Jahrhundert von Karl Grün, die Renaissance von Burckhardt, das Zeitalter Ludwig’s des XIV. von Voltaire, u. s. w., oder begrenzte Gebiete — wie Buckle’s Civili- sation in England (eigentlich in Spanien, Schottland und Frankreich), Rambaud’s Civilisation Française, Henne am Rhyn’s Kulturgeschichte der Juden u. s. w., oder wiederum besondere Erscheinungen — wie Draper’s Intellectual Development of Europe, Lecky’s Rationalism in Europe u. s. w. Die hierher gehörige Litteratur ist sehr gross, doch erblicke ich darin kein Werk, welches die Entwickelung des gesamten Germanentums darstellt, als das eines lebendigen, individuellen Organismus, bei dem alle Lebenserscheinungen — Politik, Religion, Wirtschaft, Industrie, Kunst u. s. w. — organisch mit einander ver- knüpft sind. Am ehesten würde Karl Lamprecht’s umfassend angelegte Deutsche Geschichte meinem Desideratum entsprechen, aber sie ist leider nur eine »deutsche« Geschichte, behandelt also nur ein Fragment des Germanentums. Gerade bei einem solchen Werk sieht man ein, wie misslich die Verwechslung zwischen Germanisch und Deutsch ist; sie verwirrt Alles. Denn die direkte Anknüpfung der Deutschen allein an die alten Germanen verdeckt die Thatsache, dass der nicht-deutsche Norden Europa’s fast rein germanisch ist im engsten Sinne des Wortes, und es lässt uns übersehen, dass gerade in Deutschland, im Mittelpunkt Europa’s, die Verschmelzung der drei Zweige — Kelten, Germanen, Slaven — stattfand, wodurch dieses Volk seine besondere National- färbung und den Reichtum seiner Anlagen erhielt; ausserdem verliert man den bis zur Revolution vorwiegend germanischen Charakter

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 727. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/206>, abgerufen am 26.04.2024.