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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Geschichtlicher Überblick.
ihrer poetischen Produktion zu bringen.1) In dem Zusammenhang,
der uns hier beschäftigt, ist aber folgende Beobachtung die wichtigste.
Trotz ihrer Leistungen auf dem Gebiete der Mathematik, der Gram-
matik u. s. w. übertraf die Kultur der Inder nicht allein ihre Civili-
sation, sondern auch ihr Wissen um ein Bedeutendes; daher waren
die Inder was der Engländer top-heavy nennt, d. h. zu schwer in den
oberen Teilen für die Tragfähigkeit der unteren, und das um so mehr,
als ihre Wissenschaft eine fast lediglich formelle war, der das Element
der "Entdeckung" -- also das eigentliche Material, oder wenigstens die
Herbeischaffung neuen Materials zur Ernährung der höheren Anlagen
und zur fortgesetzten Übung ihrer Fähigkeiten -- fehlte. Schon hier
bemerken wir etwas, was sich in der Folge immer wieder unserer Auf-
merksamkeit aufdrängen wird: dass "Civilisation" eine verhältnismässig
indifferente mittlere Masse ist, während enge Beziehungen gegenseitiger
Korrelation zwischen "Wissen" und "Kultur" bestehen. Der Inder,
der sehr geringe Anlagen für empirische Beobachtung der Natur besitzt,
besitzt ebenfalls (und wie ich zu zeigen hoffe in Folge dessen) geringe
künstlerische Gestaltungskraft; dagegen sehen wir die abnorme Ent-
wickelung der reinen Gehirnthätigkeit einerseits zu einer beispiellosen
Blüte der Phantasie, andererseits zu einer ebenso unerhörten Entfaltung
der logisch-mathematischen Fähigkeiten führen. Wiederum ein ganz
anderes Beispiel würden uns die Chinesen liefern, wenn wir Zeit hätten,
diesen von unseren Völkerpsychologen so tief in den Dreck geschobenen
Karren hier herauszuziehen: denn dass die Chinesen einmal anders
waren als sie jetzt sind -- erfinderisch, schöpferisch, wissenschaftlich --
und dann plötzlich vor etlichen tausend Jahren den Charakter änderten
und fortan unbegrenzt stabil blieben -- -- -- eine solche Finte schlucke
wer mag! Dieses Volk steht heute im blühendsten, thätigsten Leben,
zeigt keine Spur von Verfall, wimmelt und wächst und gedeiht; es
war immer so wie es heute ist, sonst wäre Natur nicht Natur. Und
wie ist es? fleissig, geschickt, geduldig, seelenlos. In manchen Dingen
erinnert diese Menschenart auffallend an die jüdische, namentlich durch
die gänzliche Abwesenheit aller Kultur und die einseitige Betonung der
Civilisation; doch ist der Chinese weit fleissiger, er ist der unermüd-
lichste Ackerbauer der Welt, und er ist in allen manuellen Dingen
unendlich geschickt; ausserdem besitzt er, wenn nicht Kunst (in unserem

1) Siehe Raja Sourindro Mohun Tagore: The dramatic sentiments of the
Aryas
(Calcutta 1881).

Geschichtlicher Überblick.
ihrer poetischen Produktion zu bringen.1) In dem Zusammenhang,
der uns hier beschäftigt, ist aber folgende Beobachtung die wichtigste.
Trotz ihrer Leistungen auf dem Gebiete der Mathematik, der Gram-
matik u. s. w. übertraf die Kultur der Inder nicht allein ihre Civili-
sation, sondern auch ihr Wissen um ein Bedeutendes; daher waren
die Inder was der Engländer top-heavy nennt, d. h. zu schwer in den
oberen Teilen für die Tragfähigkeit der unteren, und das um so mehr,
als ihre Wissenschaft eine fast lediglich formelle war, der das Element
der »Entdeckung« — also das eigentliche Material, oder wenigstens die
Herbeischaffung neuen Materials zur Ernährung der höheren Anlagen
und zur fortgesetzten Übung ihrer Fähigkeiten — fehlte. Schon hier
bemerken wir etwas, was sich in der Folge immer wieder unserer Auf-
merksamkeit aufdrängen wird: dass »Civilisation« eine verhältnismässig
indifferente mittlere Masse ist, während enge Beziehungen gegenseitiger
Korrelation zwischen »Wissen« und »Kultur« bestehen. Der Inder,
der sehr geringe Anlagen für empirische Beobachtung der Natur besitzt,
besitzt ebenfalls (und wie ich zu zeigen hoffe in Folge dessen) geringe
künstlerische Gestaltungskraft; dagegen sehen wir die abnorme Ent-
wickelung der reinen Gehirnthätigkeit einerseits zu einer beispiellosen
Blüte der Phantasie, andererseits zu einer ebenso unerhörten Entfaltung
der logisch-mathematischen Fähigkeiten führen. Wiederum ein ganz
anderes Beispiel würden uns die Chinesen liefern, wenn wir Zeit hätten,
diesen von unseren Völkerpsychologen so tief in den Dreck geschobenen
Karren hier herauszuziehen: denn dass die Chinesen einmal anders
waren als sie jetzt sind — erfinderisch, schöpferisch, wissenschaftlich —
und dann plötzlich vor etlichen tausend Jahren den Charakter änderten
und fortan unbegrenzt stabil blieben — — — eine solche Finte schlucke
wer mag! Dieses Volk steht heute im blühendsten, thätigsten Leben,
zeigt keine Spur von Verfall, wimmelt und wächst und gedeiht; es
war immer so wie es heute ist, sonst wäre Natur nicht Natur. Und
wie ist es? fleissig, geschickt, geduldig, seelenlos. In manchen Dingen
erinnert diese Menschenart auffallend an die jüdische, namentlich durch
die gänzliche Abwesenheit aller Kultur und die einseitige Betonung der
Civilisation; doch ist der Chinese weit fleissiger, er ist der unermüd-
lichste Ackerbauer der Welt, und er ist in allen manuellen Dingen
unendlich geschickt; ausserdem besitzt er, wenn nicht Kunst (in unserem

1) Siehe Raja Sourindro Mohun Tagore: The dramatic sentiments of the
Aryas
(Calcutta 1881).
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[741/0220] Geschichtlicher Überblick. ihrer poetischen Produktion zu bringen. 1) In dem Zusammenhang, der uns hier beschäftigt, ist aber folgende Beobachtung die wichtigste. Trotz ihrer Leistungen auf dem Gebiete der Mathematik, der Gram- matik u. s. w. übertraf die Kultur der Inder nicht allein ihre Civili- sation, sondern auch ihr Wissen um ein Bedeutendes; daher waren die Inder was der Engländer top-heavy nennt, d. h. zu schwer in den oberen Teilen für die Tragfähigkeit der unteren, und das um so mehr, als ihre Wissenschaft eine fast lediglich formelle war, der das Element der »Entdeckung« — also das eigentliche Material, oder wenigstens die Herbeischaffung neuen Materials zur Ernährung der höheren Anlagen und zur fortgesetzten Übung ihrer Fähigkeiten — fehlte. Schon hier bemerken wir etwas, was sich in der Folge immer wieder unserer Auf- merksamkeit aufdrängen wird: dass »Civilisation« eine verhältnismässig indifferente mittlere Masse ist, während enge Beziehungen gegenseitiger Korrelation zwischen »Wissen« und »Kultur« bestehen. Der Inder, der sehr geringe Anlagen für empirische Beobachtung der Natur besitzt, besitzt ebenfalls (und wie ich zu zeigen hoffe in Folge dessen) geringe künstlerische Gestaltungskraft; dagegen sehen wir die abnorme Ent- wickelung der reinen Gehirnthätigkeit einerseits zu einer beispiellosen Blüte der Phantasie, andererseits zu einer ebenso unerhörten Entfaltung der logisch-mathematischen Fähigkeiten führen. Wiederum ein ganz anderes Beispiel würden uns die Chinesen liefern, wenn wir Zeit hätten, diesen von unseren Völkerpsychologen so tief in den Dreck geschobenen Karren hier herauszuziehen: denn dass die Chinesen einmal anders waren als sie jetzt sind — erfinderisch, schöpferisch, wissenschaftlich — und dann plötzlich vor etlichen tausend Jahren den Charakter änderten und fortan unbegrenzt stabil blieben — — — eine solche Finte schlucke wer mag! Dieses Volk steht heute im blühendsten, thätigsten Leben, zeigt keine Spur von Verfall, wimmelt und wächst und gedeiht; es war immer so wie es heute ist, sonst wäre Natur nicht Natur. Und wie ist es? fleissig, geschickt, geduldig, seelenlos. In manchen Dingen erinnert diese Menschenart auffallend an die jüdische, namentlich durch die gänzliche Abwesenheit aller Kultur und die einseitige Betonung der Civilisation; doch ist der Chinese weit fleissiger, er ist der unermüd- lichste Ackerbauer der Welt, und er ist in allen manuellen Dingen unendlich geschickt; ausserdem besitzt er, wenn nicht Kunst (in unserem 1) Siehe Raja Sourindro Mohun Tagore: The dramatic sentiments of the Aryas (Calcutta 1881).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 741. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/220>, abgerufen am 26.04.2024.