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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Geschichtlicher Überblick.
Weise die Geographie ihres Landes und besitzen seit lange ein dem
Kompass ähnliches Instrument, unternahmen aber keine Forschungs-
reisen und entdeckten niemals einen Zoll breit Erde, erzeugten also
keinen Geographen, fähig, ihren Gesichtskreis zu erweitern. Den
Chinesen könnte man den "Maschine gewordenen Menschen" nennen.
So lange er auf seinen kommunistisch sich selbst regierenden Dörfern
bleibt -- mit Felderberieselung, Maulbeerbaumkultur, Kinderzeugung
u. s. w. beschäftigt -- flösst er fast Bewunderung ein: innerhalb dieser
engen Grenzen genügt eben Naturtrieb, mechanische Geschicklichkeit
und Fleiss; sobald er sie aber überschreitet, wird er eine geradezu
komische Figur, denn diese ganze fieberhafte industrielle und wissen-
schaftliche Arbeit, dieses Materialiensammeln und Studieren und Buch-
führen, diese grossartigen Staatsexamina, diese Erhebung der Gelehr-
samkeit auf den höchsten Thron, diese vom Staat unterstützte fabelhafte
Ausbildung der Kunstindustrie und der Technik führen zu rein gar
nichts: es fehlt die Seele, das, was wir hier, im Leben des Gemein-
wesens, Kultur genannt haben. Die Chinesen besitzen Moralisten, doch
keine Philosophen, sie besitzen Berge von Gedichten und Dramen --
denn bei ihnen gehört das Dichten zur Bildung und zum bon ton,
etwa wie im Frankreich des vorigen Jahrhunderts -- doch besassen
sie nie einen Dante, einen Shakespeare.1)

1) Die Nichtigkeit chinesischer Poesie ist bekannt, nur in den kleinsten
Formen didaktischer Gedichte hat sie einiges Hübsche hervorgebracht. Über die
Musik und das musikalische Drama urteilt Ambros (Geschichte der Musik, 2. Aufl.,
I, 37): "Dieses China macht wirklich den Eindruck, als sehe man die Kultur
anderer Völker im Reflexbilde eines Karikaturspiegels". Dass China einen ein-
zigen wirklichen Philosophen hervorgebracht hat, kann ich nach eifriger Umschau
in der betreffenden Litteratur nicht glauben. Confucius ist eine Art chinesischer
Jules Simon: ein edeldenkender, phantasieloser Ethiker, Politiker und Pedant.
Ohne Vergleich interessanter ist sein Antipode Lao-tze und die um ihn sich
gruppierende Schule des sogenannten Taoismus. Hier begegnen wir einer wirklich
originellen, fesselnden Weltauffassung, doch auch sie zielt einzig und allein auf
das praktische Leben und ist ohne die direkte genetische Beziehung zu der beson-
deren Civilisation der Chinesen mit ihrer fruchtlosen Hast und ignoranten Gelehr-
samkeit nicht zu begreifen. Denn der Taoismus, der uns als Metaphysik und
Theosophismus und Mysticismus geschildert wird, ist ganz einfach eine nihilistische
Reaktion, eine verzweifelte Auflehnung gegen die mit Recht als nutzlos empfundene
chinesische Civilisation. Ist Confucius ein Jules Simon aus dem Reich der Mitte,
so ist Lao-tze ein Jean Jacques Rousseau. "Werft von Euch Euer vieles Wissen
und Eure Gelehrsamkeit, und dem Volke wird es hundert Mal besser gehen;
werft von Euch Euere Wohlthuerei und Euer Moralisieren, und das Volk wird

Geschichtlicher Überblick.
Weise die Geographie ihres Landes und besitzen seit lange ein dem
Kompass ähnliches Instrument, unternahmen aber keine Forschungs-
reisen und entdeckten niemals einen Zoll breit Erde, erzeugten also
keinen Geographen, fähig, ihren Gesichtskreis zu erweitern. Den
Chinesen könnte man den »Maschine gewordenen Menschen« nennen.
So lange er auf seinen kommunistisch sich selbst regierenden Dörfern
bleibt — mit Felderberieselung, Maulbeerbaumkultur, Kinderzeugung
u. s. w. beschäftigt — flösst er fast Bewunderung ein: innerhalb dieser
engen Grenzen genügt eben Naturtrieb, mechanische Geschicklichkeit
und Fleiss; sobald er sie aber überschreitet, wird er eine geradezu
komische Figur, denn diese ganze fieberhafte industrielle und wissen-
schaftliche Arbeit, dieses Materialiensammeln und Studieren und Buch-
führen, diese grossartigen Staatsexamina, diese Erhebung der Gelehr-
samkeit auf den höchsten Thron, diese vom Staat unterstützte fabelhafte
Ausbildung der Kunstindustrie und der Technik führen zu rein gar
nichts: es fehlt die Seele, das, was wir hier, im Leben des Gemein-
wesens, Kultur genannt haben. Die Chinesen besitzen Moralisten, doch
keine Philosophen, sie besitzen Berge von Gedichten und Dramen —
denn bei ihnen gehört das Dichten zur Bildung und zum bon ton,
etwa wie im Frankreich des vorigen Jahrhunderts — doch besassen
sie nie einen Dante, einen Shakespeare.1)

1) Die Nichtigkeit chinesischer Poesie ist bekannt, nur in den kleinsten
Formen didaktischer Gedichte hat sie einiges Hübsche hervorgebracht. Über die
Musik und das musikalische Drama urteilt Ambros (Geschichte der Musik, 2. Aufl.,
I, 37): »Dieses China macht wirklich den Eindruck, als sehe man die Kultur
anderer Völker im Reflexbilde eines Karikaturspiegels«. Dass China einen ein-
zigen wirklichen Philosophen hervorgebracht hat, kann ich nach eifriger Umschau
in der betreffenden Litteratur nicht glauben. Confucius ist eine Art chinesischer
Jules Simon: ein edeldenkender, phantasieloser Ethiker, Politiker und Pedant.
Ohne Vergleich interessanter ist sein Antipode Lâo-tze und die um ihn sich
gruppierende Schule des sogenannten Tâoismus. Hier begegnen wir einer wirklich
originellen, fesselnden Weltauffassung, doch auch sie zielt einzig und allein auf
das praktische Leben und ist ohne die direkte genetische Beziehung zu der beson-
deren Civilisation der Chinesen mit ihrer fruchtlosen Hast und ignoranten Gelehr-
samkeit nicht zu begreifen. Denn der Tâoismus, der uns als Metaphysik und
Theosophismus und Mysticismus geschildert wird, ist ganz einfach eine nihilistische
Reaktion, eine verzweifelte Auflehnung gegen die mit Recht als nutzlos empfundene
chinesische Civilisation. Ist Confucius ein Jules Simon aus dem Reich der Mitte,
so ist Lâo-tze ein Jean Jacques Rousseau. »Werft von Euch Euer vieles Wissen
und Eure Gelehrsamkeit, und dem Volke wird es hundert Mal besser gehen;
werft von Euch Euere Wohlthuerei und Euer Moralisieren, und das Volk wird
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[743/0222] Geschichtlicher Überblick. Weise die Geographie ihres Landes und besitzen seit lange ein dem Kompass ähnliches Instrument, unternahmen aber keine Forschungs- reisen und entdeckten niemals einen Zoll breit Erde, erzeugten also keinen Geographen, fähig, ihren Gesichtskreis zu erweitern. Den Chinesen könnte man den »Maschine gewordenen Menschen« nennen. So lange er auf seinen kommunistisch sich selbst regierenden Dörfern bleibt — mit Felderberieselung, Maulbeerbaumkultur, Kinderzeugung u. s. w. beschäftigt — flösst er fast Bewunderung ein: innerhalb dieser engen Grenzen genügt eben Naturtrieb, mechanische Geschicklichkeit und Fleiss; sobald er sie aber überschreitet, wird er eine geradezu komische Figur, denn diese ganze fieberhafte industrielle und wissen- schaftliche Arbeit, dieses Materialiensammeln und Studieren und Buch- führen, diese grossartigen Staatsexamina, diese Erhebung der Gelehr- samkeit auf den höchsten Thron, diese vom Staat unterstützte fabelhafte Ausbildung der Kunstindustrie und der Technik führen zu rein gar nichts: es fehlt die Seele, das, was wir hier, im Leben des Gemein- wesens, Kultur genannt haben. Die Chinesen besitzen Moralisten, doch keine Philosophen, sie besitzen Berge von Gedichten und Dramen — denn bei ihnen gehört das Dichten zur Bildung und zum bon ton, etwa wie im Frankreich des vorigen Jahrhunderts — doch besassen sie nie einen Dante, einen Shakespeare. 1) 1) Die Nichtigkeit chinesischer Poesie ist bekannt, nur in den kleinsten Formen didaktischer Gedichte hat sie einiges Hübsche hervorgebracht. Über die Musik und das musikalische Drama urteilt Ambros (Geschichte der Musik, 2. Aufl., I, 37): »Dieses China macht wirklich den Eindruck, als sehe man die Kultur anderer Völker im Reflexbilde eines Karikaturspiegels«. Dass China einen ein- zigen wirklichen Philosophen hervorgebracht hat, kann ich nach eifriger Umschau in der betreffenden Litteratur nicht glauben. Confucius ist eine Art chinesischer Jules Simon: ein edeldenkender, phantasieloser Ethiker, Politiker und Pedant. Ohne Vergleich interessanter ist sein Antipode Lâo-tze und die um ihn sich gruppierende Schule des sogenannten Tâoismus. Hier begegnen wir einer wirklich originellen, fesselnden Weltauffassung, doch auch sie zielt einzig und allein auf das praktische Leben und ist ohne die direkte genetische Beziehung zu der beson- deren Civilisation der Chinesen mit ihrer fruchtlosen Hast und ignoranten Gelehr- samkeit nicht zu begreifen. Denn der Tâoismus, der uns als Metaphysik und Theosophismus und Mysticismus geschildert wird, ist ganz einfach eine nihilistische Reaktion, eine verzweifelte Auflehnung gegen die mit Recht als nutzlos empfundene chinesische Civilisation. Ist Confucius ein Jules Simon aus dem Reich der Mitte, so ist Lâo-tze ein Jean Jacques Rousseau. »Werft von Euch Euer vieles Wissen und Eure Gelehrsamkeit, und dem Volke wird es hundert Mal besser gehen; werft von Euch Euere Wohlthuerei und Euer Moralisieren, und das Volk wird

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 743. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/222>, abgerufen am 26.04.2024.