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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.

Dieses Beispiel ist, wie man sieht, ungemein lehrreich, denn es be-
weist, dass aus Wissen und Civilisation Kultur nicht von selbst hervorgeht
als ein notwendiges Produkt, als eine folgerechte Evolution, sondern, dass
Kultur durch die Art der Persönlichkeit, durch die Volksindividualität
bedingt wird. Der arische Inder besitzt bei stofflich beschränktem Wissen
und sehr gering entwickelter Civilisation eine himmelstürmende Kultur
von ewiger Bedeutung, der Chinese, bei riesig ausgedehnten Detail-
kenntnissen und raffinierter, fieberhaft thätiger Civilisation, gar keine
Kultur. Und ebenso wenig wie es nach drei Jahrhunderten gelungen
ist, den Neger zum Wissen, oder den amerikanischen Indianer zur

wieder wie ehedem kindliche Liebe und Menschengüte bewähren; werft von Euch
Euere künstlichen Lebenseinrichtungen und entsagt dem Heisshunger nach Reich-
tum, so wird es keine Diebe und Verbrecher mehr geben" (Tao Teh King I, 19, 1).
Das ist die Grundstimmung; wie man sieht, eine rein moralische, nicht eine philo-
sophische. Daraus ergiebt sich nun einerseits ein Aufbauen von utopischen Ideal-
staaten, in denen die Menschen nicht mehr lesen und schreiben können und in
ungestörtem Frieden, ohne jede Spur der verhassten Civilisation, glücklich dahin-
leben, zugleich innerlich frei, denn, wie Kwang-tze (ein hervorragender Taoist)
sagt: "Der Mensch ist der Sklave alles dessen, was er erfindet, und je mehr Dinge
er um sich ansammelt, umso unfreier sind seine Bewegungen" (XII, 2, 5). Andrer-
seits führt aber dieser Gedankengang zu einer Einsicht, die wohl niemals mit
ähnlicher Eindringlichkeit und Überzeugungskraft sich kundgethan hat: zu der
Lehre, dass in der Ruhe die grösste Triebkraft, in der Ungelehrsamkeit das reichste
Wissen, in dem Schweigen die gewaltigste Beredsamkeit, in dem absichtslosen
Handeln die bestimmteste Treffsicherheit liege. "Die höchste Errungenschaft des
Menschen ist zu wissen, dass wir nicht wissen; wogegen das Wähnen, dass wir
wüssten, ein Siechtum ist" (Tao Teh King, II, 71, 1). Es ist schwer, diese
Stimmung -- denn ich kann sie nicht anders nennen -- kurz und bündig zu-
sammenzufassen, eben weil sie eine Stimmung, nicht ein konstruktiver Gedanke
ist. Man muss diese interessanten Schriften selber lesen und zwar so, dass man
nach und nach, durch geduldige Hingabe, die spröde Form überwindet und in
das Herz dieser um ihr armes Vaterland trauernden Weisen eindringt. Metaphysik
wird man nicht finden, überhaupt keine "Philosophie", nicht einmal Materialismus
in seiner einfachsten Form, doch viel Belehrung über die grauenhafte Beschaffen-
heit des civilisierten und gelehrten Lebens der Chinesen und eine praktisch-
moralische Einsicht in die Natur des Menschen, die so tief ist, wie die von Con-
fucius flach. Diese Negation bezeichnet den Höhepunkt des dem chinesischen
Geist Erreichbaren. (Die beste Quelle zur Belehrung sind die Sacred Books of China,
welche Band 3, 16, 27, 28, 39 und 40 der von Max Müller herausgegebenen
Sacred Books of the East ausmachen; die Bände 39 und 40 enthalten die taoistischen
Bücher. Die kleine Schrift von Brandt: Die chinesische Philosophie und der Staats-
Confucianismus,
1898, kann zur vorläufigen Orientierung dienen. Dass irgend
Jemand die eigentliche Natur der taoistischen Philosophie dargelegt habe, ist mir
nicht bekannt).
Die Entstehung einer neuen Welt.

Dieses Beispiel ist, wie man sieht, ungemein lehrreich, denn es be-
weist, dass aus Wissen und Civilisation Kultur nicht von selbst hervorgeht
als ein notwendiges Produkt, als eine folgerechte Evolution, sondern, dass
Kultur durch die Art der Persönlichkeit, durch die Volksindividualität
bedingt wird. Der arische Inder besitzt bei stofflich beschränktem Wissen
und sehr gering entwickelter Civilisation eine himmelstürmende Kultur
von ewiger Bedeutung, der Chinese, bei riesig ausgedehnten Detail-
kenntnissen und raffinierter, fieberhaft thätiger Civilisation, gar keine
Kultur. Und ebenso wenig wie es nach drei Jahrhunderten gelungen
ist, den Neger zum Wissen, oder den amerikanischen Indianer zur

wieder wie ehedem kindliche Liebe und Menschengüte bewähren; werft von Euch
Euere künstlichen Lebenseinrichtungen und entsagt dem Heisshunger nach Reich-
tum, so wird es keine Diebe und Verbrecher mehr geben« (Tâo Teh King I, 19, 1).
Das ist die Grundstimmung; wie man sieht, eine rein moralische, nicht eine philo-
sophische. Daraus ergiebt sich nun einerseits ein Aufbauen von utopischen Ideal-
staaten, in denen die Menschen nicht mehr lesen und schreiben können und in
ungestörtem Frieden, ohne jede Spur der verhassten Civilisation, glücklich dahin-
leben, zugleich innerlich frei, denn, wie Kwang-tze (ein hervorragender Tâoist)
sagt: »Der Mensch ist der Sklave alles dessen, was er erfindet, und je mehr Dinge
er um sich ansammelt, umso unfreier sind seine Bewegungen« (XII, 2, 5). Andrer-
seits führt aber dieser Gedankengang zu einer Einsicht, die wohl niemals mit
ähnlicher Eindringlichkeit und Überzeugungskraft sich kundgethan hat: zu der
Lehre, dass in der Ruhe die grösste Triebkraft, in der Ungelehrsamkeit das reichste
Wissen, in dem Schweigen die gewaltigste Beredsamkeit, in dem absichtslosen
Handeln die bestimmteste Treffsicherheit liege. »Die höchste Errungenschaft des
Menschen ist zu wissen, dass wir nicht wissen; wogegen das Wähnen, dass wir
wüssten, ein Siechtum ist« (Tâo Teh King, II, 71, 1). Es ist schwer, diese
Stimmung — denn ich kann sie nicht anders nennen — kurz und bündig zu-
sammenzufassen, eben weil sie eine Stimmung, nicht ein konstruktiver Gedanke
ist. Man muss diese interessanten Schriften selber lesen und zwar so, dass man
nach und nach, durch geduldige Hingabe, die spröde Form überwindet und in
das Herz dieser um ihr armes Vaterland trauernden Weisen eindringt. Metaphysik
wird man nicht finden, überhaupt keine »Philosophie«, nicht einmal Materialismus
in seiner einfachsten Form, doch viel Belehrung über die grauenhafte Beschaffen-
heit des civilisierten und gelehrten Lebens der Chinesen und eine praktisch-
moralische Einsicht in die Natur des Menschen, die so tief ist, wie die von Con-
fucius flach. Diese Negation bezeichnet den Höhepunkt des dem chinesischen
Geist Erreichbaren. (Die beste Quelle zur Belehrung sind die Sacred Books of China,
welche Band 3, 16, 27, 28, 39 und 40 der von Max Müller herausgegebenen
Sacred Books of the East ausmachen; die Bände 39 und 40 enthalten die tâoistischen
Bücher. Die kleine Schrift von Brandt: Die chinesische Philosophie und der Staats-
Confucianismus,
1898, kann zur vorläufigen Orientierung dienen. Dass irgend
Jemand die eigentliche Natur der tâoistischen Philosophie dargelegt habe, ist mir
nicht bekannt).
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[744/0223] Die Entstehung einer neuen Welt. Dieses Beispiel ist, wie man sieht, ungemein lehrreich, denn es be- weist, dass aus Wissen und Civilisation Kultur nicht von selbst hervorgeht als ein notwendiges Produkt, als eine folgerechte Evolution, sondern, dass Kultur durch die Art der Persönlichkeit, durch die Volksindividualität bedingt wird. Der arische Inder besitzt bei stofflich beschränktem Wissen und sehr gering entwickelter Civilisation eine himmelstürmende Kultur von ewiger Bedeutung, der Chinese, bei riesig ausgedehnten Detail- kenntnissen und raffinierter, fieberhaft thätiger Civilisation, gar keine Kultur. Und ebenso wenig wie es nach drei Jahrhunderten gelungen ist, den Neger zum Wissen, oder den amerikanischen Indianer zur 1) 1) wieder wie ehedem kindliche Liebe und Menschengüte bewähren; werft von Euch Euere künstlichen Lebenseinrichtungen und entsagt dem Heisshunger nach Reich- tum, so wird es keine Diebe und Verbrecher mehr geben« (Tâo Teh King I, 19, 1). Das ist die Grundstimmung; wie man sieht, eine rein moralische, nicht eine philo- sophische. Daraus ergiebt sich nun einerseits ein Aufbauen von utopischen Ideal- staaten, in denen die Menschen nicht mehr lesen und schreiben können und in ungestörtem Frieden, ohne jede Spur der verhassten Civilisation, glücklich dahin- leben, zugleich innerlich frei, denn, wie Kwang-tze (ein hervorragender Tâoist) sagt: »Der Mensch ist der Sklave alles dessen, was er erfindet, und je mehr Dinge er um sich ansammelt, umso unfreier sind seine Bewegungen« (XII, 2, 5). Andrer- seits führt aber dieser Gedankengang zu einer Einsicht, die wohl niemals mit ähnlicher Eindringlichkeit und Überzeugungskraft sich kundgethan hat: zu der Lehre, dass in der Ruhe die grösste Triebkraft, in der Ungelehrsamkeit das reichste Wissen, in dem Schweigen die gewaltigste Beredsamkeit, in dem absichtslosen Handeln die bestimmteste Treffsicherheit liege. »Die höchste Errungenschaft des Menschen ist zu wissen, dass wir nicht wissen; wogegen das Wähnen, dass wir wüssten, ein Siechtum ist« (Tâo Teh King, II, 71, 1). Es ist schwer, diese Stimmung — denn ich kann sie nicht anders nennen — kurz und bündig zu- sammenzufassen, eben weil sie eine Stimmung, nicht ein konstruktiver Gedanke ist. Man muss diese interessanten Schriften selber lesen und zwar so, dass man nach und nach, durch geduldige Hingabe, die spröde Form überwindet und in das Herz dieser um ihr armes Vaterland trauernden Weisen eindringt. Metaphysik wird man nicht finden, überhaupt keine »Philosophie«, nicht einmal Materialismus in seiner einfachsten Form, doch viel Belehrung über die grauenhafte Beschaffen- heit des civilisierten und gelehrten Lebens der Chinesen und eine praktisch- moralische Einsicht in die Natur des Menschen, die so tief ist, wie die von Con- fucius flach. Diese Negation bezeichnet den Höhepunkt des dem chinesischen Geist Erreichbaren. (Die beste Quelle zur Belehrung sind die Sacred Books of China, welche Band 3, 16, 27, 28, 39 und 40 der von Max Müller herausgegebenen Sacred Books of the East ausmachen; die Bände 39 und 40 enthalten die tâoistischen Bücher. Die kleine Schrift von Brandt: Die chinesische Philosophie und der Staats- Confucianismus, 1898, kann zur vorläufigen Orientierung dienen. Dass irgend Jemand die eigentliche Natur der tâoistischen Philosophie dargelegt habe, ist mir nicht bekannt).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 744. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/223>, abgerufen am 26.04.2024.