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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
des Evangeliums, jedem blöden Aberglauben (die Geschichte des
Arianismus bezeugt es) abhold. Und trotzdem schwindet das Evangelium
bald und verstummt die grosse Stimme; denn die Kinder des Chaos
wollen von dem blutigen stellvertretenden Opfer nicht lassen, welches
die besseren Geister unter den Hellenen und den Indern schon längst
überwunden und die hervorragendsten Propheten der Juden vor Jahr-
hunderten verspottet hatten; dazu gesellt sich allerhand kabbalistischer
Zauber und stoffliche Metamorphose aus dem späten unsauberen Syro --
Ägypten: und das alles, durch jüdische Chronik ausstaffirt und er-
gänzt, ist nunmehr die "Religion" der Germanen! Selbst die Refor-
mation wirft sie nicht ab und gerät dadurch in einen unlösbaren
Widerspruch mit sich selber, der das Schwergewicht ihrer Bedeutung
in das rein politische Gebiet verlegt, also in die Klasse der bloss
civilisatorischen Kräfte, während sie es kulturell nicht weiter, als zu
einer inkonsequenten Bejahung bringt (Erlösung durch den Glauben --
und dennoch die Beibehaltung materialistischer Superstitionen) und einer
fragmentarischen Verneinung (Verwerfung eines Teiles der dogmatischen
Zuthaten, Beibehaltung des übrigen1). In dem Mangel einer wahr-
haftigen, unserer eigenen Art entsprossenen und entsprechenden
Religion erblicke ich die grösste Gefahr für die Zukunft des Germanen;
das ist seine Achillesferse; wer ihn dort trifft, wird ihn fällen. Man
schaue doch auf den Hellenen zurück: von Alexander geführt, zeigte
er seine Befähigung, die ganze Welt zu unterwerfen; doch der schwache
Punkt war bei ihm die Politik; verschwenderisch begabt auch in dieser
Beziehung, hat er die ersten Theoretiker über Politik, die erfindungs-
reichsten Staatengründer, die genialsten Redner über die allgemeine Sache
hervorgebracht; doch blieb ihm versagt, was auf allen anderen Gebieten
ihm gelungen war, hier Grosses und Dauerndes zu gestalten; hieran
ging er zu Grunde; einzig seine jämmerliche politische Lage lieferte
ihn dem Römer aus; mit der Freiheit verlor er das Leben; der erste
harmonisch vollendete Mensch war dahin und nur sein Schatten

1) Namentlich Luther bleibt in dieser Beziehung vollständig im religiösen
Materialismus befangen; er -- der Glaubensheld -- "eliminiert den Glauben so
sehr aus dem Abendmahl", dass er lehrt, auch der Ungläubige zerbeisse den Leib
Christi mit den Zähnen. Er nimmt also das an, wogegen Berengar und so viele
andere streng römische Katholiken wenige Jahrhunderte früher mutig gekämpft
hatten und was nicht allein den ersten Christen, sondern noch Männern wie
Ambrosius und Augustinus ein Greuel gewesen wäre. (Vergl. Harnack: Grund-
riss der Dogmengeschichte,
§ 81.)

Die Entstehung einer neuen Welt.
des Evangeliums, jedem blöden Aberglauben (die Geschichte des
Arianismus bezeugt es) abhold. Und trotzdem schwindet das Evangelium
bald und verstummt die grosse Stimme; denn die Kinder des Chaos
wollen von dem blutigen stellvertretenden Opfer nicht lassen, welches
die besseren Geister unter den Hellenen und den Indern schon längst
überwunden und die hervorragendsten Propheten der Juden vor Jahr-
hunderten verspottet hatten; dazu gesellt sich allerhand kabbalistischer
Zauber und stoffliche Metamorphose aus dem späten unsauberen Syro —
Ägypten: und das alles, durch jüdische Chronik ausstaffirt und er-
gänzt, ist nunmehr die »Religion« der Germanen! Selbst die Refor-
mation wirft sie nicht ab und gerät dadurch in einen unlösbaren
Widerspruch mit sich selber, der das Schwergewicht ihrer Bedeutung
in das rein politische Gebiet verlegt, also in die Klasse der bloss
civilisatorischen Kräfte, während sie es kulturell nicht weiter, als zu
einer inkonsequenten Bejahung bringt (Erlösung durch den Glauben —
und dennoch die Beibehaltung materialistischer Superstitionen) und einer
fragmentarischen Verneinung (Verwerfung eines Teiles der dogmatischen
Zuthaten, Beibehaltung des übrigen1). In dem Mangel einer wahr-
haftigen, unserer eigenen Art entsprossenen und entsprechenden
Religion erblicke ich die grösste Gefahr für die Zukunft des Germanen;
das ist seine Achillesferse; wer ihn dort trifft, wird ihn fällen. Man
schaue doch auf den Hellenen zurück: von Alexander geführt, zeigte
er seine Befähigung, die ganze Welt zu unterwerfen; doch der schwache
Punkt war bei ihm die Politik; verschwenderisch begabt auch in dieser
Beziehung, hat er die ersten Theoretiker über Politik, die erfindungs-
reichsten Staatengründer, die genialsten Redner über die allgemeine Sache
hervorgebracht; doch blieb ihm versagt, was auf allen anderen Gebieten
ihm gelungen war, hier Grosses und Dauerndes zu gestalten; hieran
ging er zu Grunde; einzig seine jämmerliche politische Lage lieferte
ihn dem Römer aus; mit der Freiheit verlor er das Leben; der erste
harmonisch vollendete Mensch war dahin und nur sein Schatten

1) Namentlich Luther bleibt in dieser Beziehung vollständig im religiösen
Materialismus befangen; er — der Glaubensheld — »eliminiert den Glauben so
sehr aus dem Abendmahl«, dass er lehrt, auch der Ungläubige zerbeisse den Leib
Christi mit den Zähnen. Er nimmt also das an, wogegen Berengar und so viele
andere streng römische Katholiken wenige Jahrhunderte früher mutig gekämpft
hatten und was nicht allein den ersten Christen, sondern noch Männern wie
Ambrosius und Augustinus ein Greuel gewesen wäre. (Vergl. Harnack: Grund-
riss der Dogmengeschichte,
§ 81.)
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[750/0229] Die Entstehung einer neuen Welt. des Evangeliums, jedem blöden Aberglauben (die Geschichte des Arianismus bezeugt es) abhold. Und trotzdem schwindet das Evangelium bald und verstummt die grosse Stimme; denn die Kinder des Chaos wollen von dem blutigen stellvertretenden Opfer nicht lassen, welches die besseren Geister unter den Hellenen und den Indern schon längst überwunden und die hervorragendsten Propheten der Juden vor Jahr- hunderten verspottet hatten; dazu gesellt sich allerhand kabbalistischer Zauber und stoffliche Metamorphose aus dem späten unsauberen Syro — Ägypten: und das alles, durch jüdische Chronik ausstaffirt und er- gänzt, ist nunmehr die »Religion« der Germanen! Selbst die Refor- mation wirft sie nicht ab und gerät dadurch in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selber, der das Schwergewicht ihrer Bedeutung in das rein politische Gebiet verlegt, also in die Klasse der bloss civilisatorischen Kräfte, während sie es kulturell nicht weiter, als zu einer inkonsequenten Bejahung bringt (Erlösung durch den Glauben — und dennoch die Beibehaltung materialistischer Superstitionen) und einer fragmentarischen Verneinung (Verwerfung eines Teiles der dogmatischen Zuthaten, Beibehaltung des übrigen 1). In dem Mangel einer wahr- haftigen, unserer eigenen Art entsprossenen und entsprechenden Religion erblicke ich die grösste Gefahr für die Zukunft des Germanen; das ist seine Achillesferse; wer ihn dort trifft, wird ihn fällen. Man schaue doch auf den Hellenen zurück: von Alexander geführt, zeigte er seine Befähigung, die ganze Welt zu unterwerfen; doch der schwache Punkt war bei ihm die Politik; verschwenderisch begabt auch in dieser Beziehung, hat er die ersten Theoretiker über Politik, die erfindungs- reichsten Staatengründer, die genialsten Redner über die allgemeine Sache hervorgebracht; doch blieb ihm versagt, was auf allen anderen Gebieten ihm gelungen war, hier Grosses und Dauerndes zu gestalten; hieran ging er zu Grunde; einzig seine jämmerliche politische Lage lieferte ihn dem Römer aus; mit der Freiheit verlor er das Leben; der erste harmonisch vollendete Mensch war dahin und nur sein Schatten 1) Namentlich Luther bleibt in dieser Beziehung vollständig im religiösen Materialismus befangen; er — der Glaubensheld — »eliminiert den Glauben so sehr aus dem Abendmahl«, dass er lehrt, auch der Ungläubige zerbeisse den Leib Christi mit den Zähnen. Er nimmt also das an, wogegen Berengar und so viele andere streng römische Katholiken wenige Jahrhunderte früher mutig gekämpft hatten und was nicht allein den ersten Christen, sondern noch Männern wie Ambrosius und Augustinus ein Greuel gewesen wäre. (Vergl. Harnack: Grund- riss der Dogmengeschichte, § 81.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 750. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/229>, abgerufen am 26.04.2024.