Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Entdeckung.
darbot. Wohl mochte sein Zeitgenosse, Roger Bacon, spotten über
"den Knaben, der alles lehre, ohne dass er selber irgend etwas
gelernt habe", denn Bacon hatte handgreiflich dargethan, dass uns
die Grundlagen zum einfachsten Wissen noch völlig abgingen und
er hatte gezeigt, auf welchem Wege allein diesem Mangel abzuhelfen
sei; doch was nutzte Vernunft und Wahrhaftigkeit? Thomas, welcher
behauptete, die heilige Kirchenlehre im Bunde mit dem kaum minder
heiligen Aristoteles genüge, um jede denkbare Frage apodiktisch zu
beantworten (siehe S. 683), alles weitere Forschen sei überflüssig und
verdammungswürdig, wurde heilig gesprochen, Bacon wurde in den
Kerker geworfen. Der Allwissenheit des Thomas gelang es auch
thatsächlich, das schon begonnene Werk der mathematischen, physi-
kalischen, astronomischen und philologischen Untersuchungen für drei
ganze Jahrhunderte vollständig zu inhibieren!1)

Wir sehen also ein, warum das Entdeckungswerk so spät anhub.
Zugleich gelangen wir zur Kenntnis eines allgemeinen Gesetzes in Bezug
auf alles Wissen: nicht die Unwissenheit, sondern die Allwissenheit
ist für jede Zunahme des Wissensstoffes eine tödliche Atmosphäre.
Weisheit und Ignoranz sind beides nur die Bezeichnungen für nie
bestimmbare, weil rein relative Begriffe, der absolute Unterschied liegt
ganz wo anders; es ist der zwischen dem Manne, der sich seiner Un-
wissenheit bewusst ist und dem, der durch irgend eine Selbsttäuschung
sich entweder im Besitze alles Wissens wähnt oder sich über alles
Wissen erhaben dünkt. Ja, man dürfte vielleicht noch weiter gehen
und die Behauptung aufstellen, jegliche Wissenschaft, selbst die echte,
berge eine Gefahr für die Entdeckung, indem sie die Unbefangenheit
des beobachtenden Menschen der Natur gegenüber in etwas lähmt.
Hier wie anderswo (siehe S. 686) ist nicht so sehr die Menge und
die Art des Wissens, als vielmehr die Richtung des Geistes das Ent-

1) Das ist der Philosoph, der heute von den Jesuiten auf den Thron er-
hoben wird (siehe S. 680) und dessen Lehren hinfürder die Grundlage für die
philosophische Bildung aller römischen Katholiken abgeben sollen! Wie frei sich
der germanische Geist regte ehe ihm von der Kirche diese Ketten angelegt wurden,
zeigt die Thatsache, dass auf der Universität zu Paris im 13. Jahrhundert Thesen
wie die folgenden verteidigt wurden: "Die Reden der Theologen sind auf Fabeln
gegründet" und "Es wird nichts mehr gewusst wegen des angeblichen Wissens
der Theologen" und "Die christliche Religion hindert daran, etwas hinzuzu-
lernen" (vergl. Wernicke: Die mathematisch-naturwissenschaftliche Forschung, etc.,
1898, S. 5).

Entdeckung.
darbot. Wohl mochte sein Zeitgenosse, Roger Bacon, spotten über
»den Knaben, der alles lehre, ohne dass er selber irgend etwas
gelernt habe«, denn Bacon hatte handgreiflich dargethan, dass uns
die Grundlagen zum einfachsten Wissen noch völlig abgingen und
er hatte gezeigt, auf welchem Wege allein diesem Mangel abzuhelfen
sei; doch was nutzte Vernunft und Wahrhaftigkeit? Thomas, welcher
behauptete, die heilige Kirchenlehre im Bunde mit dem kaum minder
heiligen Aristoteles genüge, um jede denkbare Frage apodiktisch zu
beantworten (siehe S. 683), alles weitere Forschen sei überflüssig und
verdammungswürdig, wurde heilig gesprochen, Bacon wurde in den
Kerker geworfen. Der Allwissenheit des Thomas gelang es auch
thatsächlich, das schon begonnene Werk der mathematischen, physi-
kalischen, astronomischen und philologischen Untersuchungen für drei
ganze Jahrhunderte vollständig zu inhibieren!1)

Wir sehen also ein, warum das Entdeckungswerk so spät anhub.
Zugleich gelangen wir zur Kenntnis eines allgemeinen Gesetzes in Bezug
auf alles Wissen: nicht die Unwissenheit, sondern die Allwissenheit
ist für jede Zunahme des Wissensstoffes eine tödliche Atmosphäre.
Weisheit und Ignoranz sind beides nur die Bezeichnungen für nie
bestimmbare, weil rein relative Begriffe, der absolute Unterschied liegt
ganz wo anders; es ist der zwischen dem Manne, der sich seiner Un-
wissenheit bewusst ist und dem, der durch irgend eine Selbsttäuschung
sich entweder im Besitze alles Wissens wähnt oder sich über alles
Wissen erhaben dünkt. Ja, man dürfte vielleicht noch weiter gehen
und die Behauptung aufstellen, jegliche Wissenschaft, selbst die echte,
berge eine Gefahr für die Entdeckung, indem sie die Unbefangenheit
des beobachtenden Menschen der Natur gegenüber in etwas lähmt.
Hier wie anderswo (siehe S. 686) ist nicht so sehr die Menge und
die Art des Wissens, als vielmehr die Richtung des Geistes das Ent-

1) Das ist der Philosoph, der heute von den Jesuiten auf den Thron er-
hoben wird (siehe S. 680) und dessen Lehren hinfürder die Grundlage für die
philosophische Bildung aller römischen Katholiken abgeben sollen! Wie frei sich
der germanische Geist regte ehe ihm von der Kirche diese Ketten angelegt wurden,
zeigt die Thatsache, dass auf der Universität zu Paris im 13. Jahrhundert Thesen
wie die folgenden verteidigt wurden: »Die Reden der Theologen sind auf Fabeln
gegründet« und »Es wird nichts mehr gewusst wegen des angeblichen Wissens
der Theologen« und »Die christliche Religion hindert daran, etwas hinzuzu-
lernen« (vergl. Wernicke: Die mathematisch-naturwissenschaftliche Forschung, etc.,
1898, S. 5).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0244" n="765"/><fw place="top" type="header">Entdeckung.</fw><lb/>
darbot. Wohl mochte sein Zeitgenosse, Roger Bacon, spotten über<lb/>
»den Knaben, der alles lehre, ohne dass er selber irgend etwas<lb/>
gelernt habe«, denn Bacon hatte handgreiflich dargethan, dass uns<lb/>
die Grundlagen zum einfachsten Wissen noch völlig abgingen und<lb/>
er hatte gezeigt, auf welchem Wege allein diesem Mangel abzuhelfen<lb/>
sei; doch was nutzte Vernunft und Wahrhaftigkeit? Thomas, welcher<lb/>
behauptete, die heilige Kirchenlehre im Bunde mit dem kaum minder<lb/>
heiligen Aristoteles genüge, um jede denkbare Frage apodiktisch zu<lb/>
beantworten (siehe S. 683), alles weitere Forschen sei überflüssig und<lb/>
verdammungswürdig, wurde heilig gesprochen, Bacon wurde in den<lb/>
Kerker geworfen. Der Allwissenheit des Thomas gelang es auch<lb/>
thatsächlich, das schon begonnene Werk der mathematischen, physi-<lb/>
kalischen, astronomischen und philologischen Untersuchungen für drei<lb/>
ganze Jahrhunderte vollständig zu inhibieren!<note place="foot" n="1)">Das ist der Philosoph, der heute von den Jesuiten auf den Thron er-<lb/>
hoben wird (siehe S. 680) und dessen Lehren hinfürder die Grundlage für die<lb/>
philosophische Bildung aller römischen Katholiken abgeben sollen! Wie frei sich<lb/>
der germanische Geist regte ehe ihm von der Kirche diese Ketten angelegt wurden,<lb/>
zeigt die Thatsache, dass auf der Universität zu Paris im 13. Jahrhundert Thesen<lb/>
wie die folgenden verteidigt wurden: »Die Reden der Theologen sind auf Fabeln<lb/>
gegründet« und »Es wird nichts mehr gewusst wegen des angeblichen Wissens<lb/>
der Theologen« und »Die christliche Religion hindert daran, etwas hinzuzu-<lb/>
lernen« (vergl. Wernicke: <hi rendition="#i">Die mathematisch-naturwissenschaftliche Forschung, etc.,</hi><lb/>
1898, S. 5).</note></p><lb/>
              <p>Wir sehen also ein, warum das Entdeckungswerk so spät anhub.<lb/>
Zugleich gelangen wir zur Kenntnis eines allgemeinen Gesetzes in Bezug<lb/>
auf alles Wissen: nicht die Unwissenheit, sondern die Allwissenheit<lb/>
ist für jede Zunahme des Wissensstoffes eine tödliche Atmosphäre.<lb/>
Weisheit und Ignoranz sind beides nur die Bezeichnungen für nie<lb/>
bestimmbare, weil rein relative Begriffe, der absolute Unterschied liegt<lb/>
ganz wo anders; es ist der zwischen dem Manne, der sich seiner Un-<lb/>
wissenheit bewusst ist und dem, der durch irgend eine Selbsttäuschung<lb/>
sich entweder im Besitze alles Wissens wähnt oder sich über alles<lb/>
Wissen erhaben dünkt. Ja, man dürfte vielleicht noch weiter gehen<lb/>
und die Behauptung aufstellen, jegliche Wissenschaft, selbst die echte,<lb/>
berge eine Gefahr für die Entdeckung, indem sie die Unbefangenheit<lb/>
des beobachtenden Menschen der Natur gegenüber in etwas lähmt.<lb/>
Hier wie anderswo (siehe S. 686) ist nicht so sehr die Menge und<lb/>
die Art des Wissens, als vielmehr die Richtung des Geistes das Ent-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[765/0244] Entdeckung. darbot. Wohl mochte sein Zeitgenosse, Roger Bacon, spotten über »den Knaben, der alles lehre, ohne dass er selber irgend etwas gelernt habe«, denn Bacon hatte handgreiflich dargethan, dass uns die Grundlagen zum einfachsten Wissen noch völlig abgingen und er hatte gezeigt, auf welchem Wege allein diesem Mangel abzuhelfen sei; doch was nutzte Vernunft und Wahrhaftigkeit? Thomas, welcher behauptete, die heilige Kirchenlehre im Bunde mit dem kaum minder heiligen Aristoteles genüge, um jede denkbare Frage apodiktisch zu beantworten (siehe S. 683), alles weitere Forschen sei überflüssig und verdammungswürdig, wurde heilig gesprochen, Bacon wurde in den Kerker geworfen. Der Allwissenheit des Thomas gelang es auch thatsächlich, das schon begonnene Werk der mathematischen, physi- kalischen, astronomischen und philologischen Untersuchungen für drei ganze Jahrhunderte vollständig zu inhibieren! 1) Wir sehen also ein, warum das Entdeckungswerk so spät anhub. Zugleich gelangen wir zur Kenntnis eines allgemeinen Gesetzes in Bezug auf alles Wissen: nicht die Unwissenheit, sondern die Allwissenheit ist für jede Zunahme des Wissensstoffes eine tödliche Atmosphäre. Weisheit und Ignoranz sind beides nur die Bezeichnungen für nie bestimmbare, weil rein relative Begriffe, der absolute Unterschied liegt ganz wo anders; es ist der zwischen dem Manne, der sich seiner Un- wissenheit bewusst ist und dem, der durch irgend eine Selbsttäuschung sich entweder im Besitze alles Wissens wähnt oder sich über alles Wissen erhaben dünkt. Ja, man dürfte vielleicht noch weiter gehen und die Behauptung aufstellen, jegliche Wissenschaft, selbst die echte, berge eine Gefahr für die Entdeckung, indem sie die Unbefangenheit des beobachtenden Menschen der Natur gegenüber in etwas lähmt. Hier wie anderswo (siehe S. 686) ist nicht so sehr die Menge und die Art des Wissens, als vielmehr die Richtung des Geistes das Ent- 1) Das ist der Philosoph, der heute von den Jesuiten auf den Thron er- hoben wird (siehe S. 680) und dessen Lehren hinfürder die Grundlage für die philosophische Bildung aller römischen Katholiken abgeben sollen! Wie frei sich der germanische Geist regte ehe ihm von der Kirche diese Ketten angelegt wurden, zeigt die Thatsache, dass auf der Universität zu Paris im 13. Jahrhundert Thesen wie die folgenden verteidigt wurden: »Die Reden der Theologen sind auf Fabeln gegründet« und »Es wird nichts mehr gewusst wegen des angeblichen Wissens der Theologen« und »Die christliche Religion hindert daran, etwas hinzuzu- lernen« (vergl. Wernicke: Die mathematisch-naturwissenschaftliche Forschung, etc., 1898, S. 5).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/244
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 765. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/244>, abgerufen am 26.04.2024.