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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.

Sehr auffallend ist zunächst die Abneigung gegen die jüdischen
Religionslehren; jeder Mystiker ist (ob er's will oder nicht) ein geborener
Antisemit. Zunächst helfen sich die frommen Gemüter, wie Bona-
ventura, indem sie das ganze Alte Testament allegorisch und seine
erborgten mystischen Bestandteile symbolisch deuten -- eine Tendenz,
die wir schon fünfhundert Jahre früher bei Scotus Erigena vollkommen
ausgebildet fanden, und die wir übrigens viel weiter zurückverfolgen
können, bis auf Marcion und Origenes.1) Doch damit beruhigen sich
die nach wahrer Religion dürstenden Seelen nicht. Der strenggläubige
Thomas von Kempen bittet mit rührender Naivetät zu Gott: "Lass es
nicht Moses sein oder die Propheten, die zu mir reden, sondern rede
du selber -- -- -- von jenen vernehme ich wohl Worte, doch fehlt
der Geist; was sie sagen, ist zwar schön, doch erwärmt es das Herz
nicht."2) Diesem Gefühle begegnen wir bei fast allen Mystikern; nirgends-
wo in anmutigerer Gestalt als bei dem grossen Jakob Böhme (1575 bis
1624), der sich an vielen Stellen der Bibel, nachdem er alles mögliche
allegorisch und symbolisch weggedeutet hat (so z. B. die gesamte
Schöpfungsgeschichte) und sieht, es geht nicht weiter, mit der Aus-
kunft hilft: "Allhie lieget dem Mosi der Deckel vor den Augen", und
nunmehr die Sache nach seiner Art frei darstellt!3) Ernster wird die
Opposition, wo sie die Vorstellungen von Himmel und Hölle und
namentlich die letztere betrifft. Die Vorstellung der Hölle ist ja ohne
Frage, wenn wir aufrichtig sprechen wollen, der eigentliche Schandfleck
der kirchlichen Lehre. Geboren im kleinasiatischen Abschaum der rassen-
losen Sklaven, grossgezogen in den unrettbar chaotischen, ignoranten,
bestialischen Jahrhunderten des untergehenden und untergegangenen
römischen Imperiums, war sie edlen Geistern stets zuwider, wenn auch
nur wenige es vermochten, sie so vollkommen zu überwinden, wie
Origenes und wie jener unbegreiflich hohe Geist, Scotus Erigena.4) Dass
Wenige es vermochten, ist leicht zu verstehen, denn das kirchliche
Christentum hatte sich nach und nach zu einer Religion von Himmel

1) Siehe S. 570 und 608.
2) De imitatione Christi, Buch 3., Kap. 2.
3) Siehe z. B. Mysterium magnum, oder Erklärung über das erste Buch Mosis,
Kap. 19, § 1.
4) S. 573 und 640. Die enorme Verbreitung von Erigena's Einteilung der Natur
im 13. Jahrhundert (S. 763, 819) zeigt, wie allgemein die Sehnsucht war, diese
grauenhafte Ausgeburt orientalischer Phantasie loszuwerden. Luther ist trotz aller
Rechtgläubigkeit oft geneigt, sich direkt an Erigena anzuschliessen, auch er schreibt:
"Der Mensch hat die Hölle in sich selbst" (Vierzehn Trostmittel I, 1).
Die Entstehung einer neuen Welt.

Sehr auffallend ist zunächst die Abneigung gegen die jüdischen
Religionslehren; jeder Mystiker ist (ob er’s will oder nicht) ein geborener
Antisemit. Zunächst helfen sich die frommen Gemüter, wie Bona-
ventura, indem sie das ganze Alte Testament allegorisch und seine
erborgten mystischen Bestandteile symbolisch deuten — eine Tendenz,
die wir schon fünfhundert Jahre früher bei Scotus Erigena vollkommen
ausgebildet fanden, und die wir übrigens viel weiter zurückverfolgen
können, bis auf Marcion und Origenes.1) Doch damit beruhigen sich
die nach wahrer Religion dürstenden Seelen nicht. Der strenggläubige
Thomas von Kempen bittet mit rührender Naivetät zu Gott: »Lass es
nicht Moses sein oder die Propheten, die zu mir reden, sondern rede
du selber — — — von jenen vernehme ich wohl Worte, doch fehlt
der Geist; was sie sagen, ist zwar schön, doch erwärmt es das Herz
nicht.«2) Diesem Gefühle begegnen wir bei fast allen Mystikern; nirgends-
wo in anmutigerer Gestalt als bei dem grossen Jakob Böhme (1575 bis
1624), der sich an vielen Stellen der Bibel, nachdem er alles mögliche
allegorisch und symbolisch weggedeutet hat (so z. B. die gesamte
Schöpfungsgeschichte) und sieht, es geht nicht weiter, mit der Aus-
kunft hilft: »Allhie lieget dem Mosi der Deckel vor den Augen«, und
nunmehr die Sache nach seiner Art frei darstellt!3) Ernster wird die
Opposition, wo sie die Vorstellungen von Himmel und Hölle und
namentlich die letztere betrifft. Die Vorstellung der Hölle ist ja ohne
Frage, wenn wir aufrichtig sprechen wollen, der eigentliche Schandfleck
der kirchlichen Lehre. Geboren im kleinasiatischen Abschaum der rassen-
losen Sklaven, grossgezogen in den unrettbar chaotischen, ignoranten,
bestialischen Jahrhunderten des untergehenden und untergegangenen
römischen Imperiums, war sie edlen Geistern stets zuwider, wenn auch
nur wenige es vermochten, sie so vollkommen zu überwinden, wie
Origenes und wie jener unbegreiflich hohe Geist, Scotus Erigena.4) Dass
Wenige es vermochten, ist leicht zu verstehen, denn das kirchliche
Christentum hatte sich nach und nach zu einer Religion von Himmel

1) Siehe S. 570 und 608.
2) De imitatione Christi, Buch 3., Kap. 2.
3) Siehe z. B. Mysterium magnum, oder Erklärung über das erste Buch Mosis,
Kap. 19, § 1.
4) S. 573 und 640. Die enorme Verbreitung von Erigena’s Einteilung der Natur
im 13. Jahrhundert (S. 763, 819) zeigt, wie allgemein die Sehnsucht war, diese
grauenhafte Ausgeburt orientalischer Phantasie loszuwerden. Luther ist trotz aller
Rechtgläubigkeit oft geneigt, sich direkt an Erigena anzuschliessen, auch er schreibt:
»Der Mensch hat die Hölle in sich selbst« (Vierzehn Trostmittel I, 1).
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[878/0357] Die Entstehung einer neuen Welt. Sehr auffallend ist zunächst die Abneigung gegen die jüdischen Religionslehren; jeder Mystiker ist (ob er’s will oder nicht) ein geborener Antisemit. Zunächst helfen sich die frommen Gemüter, wie Bona- ventura, indem sie das ganze Alte Testament allegorisch und seine erborgten mystischen Bestandteile symbolisch deuten — eine Tendenz, die wir schon fünfhundert Jahre früher bei Scotus Erigena vollkommen ausgebildet fanden, und die wir übrigens viel weiter zurückverfolgen können, bis auf Marcion und Origenes. 1) Doch damit beruhigen sich die nach wahrer Religion dürstenden Seelen nicht. Der strenggläubige Thomas von Kempen bittet mit rührender Naivetät zu Gott: »Lass es nicht Moses sein oder die Propheten, die zu mir reden, sondern rede du selber — — — von jenen vernehme ich wohl Worte, doch fehlt der Geist; was sie sagen, ist zwar schön, doch erwärmt es das Herz nicht.« 2) Diesem Gefühle begegnen wir bei fast allen Mystikern; nirgends- wo in anmutigerer Gestalt als bei dem grossen Jakob Böhme (1575 bis 1624), der sich an vielen Stellen der Bibel, nachdem er alles mögliche allegorisch und symbolisch weggedeutet hat (so z. B. die gesamte Schöpfungsgeschichte) und sieht, es geht nicht weiter, mit der Aus- kunft hilft: »Allhie lieget dem Mosi der Deckel vor den Augen«, und nunmehr die Sache nach seiner Art frei darstellt! 3) Ernster wird die Opposition, wo sie die Vorstellungen von Himmel und Hölle und namentlich die letztere betrifft. Die Vorstellung der Hölle ist ja ohne Frage, wenn wir aufrichtig sprechen wollen, der eigentliche Schandfleck der kirchlichen Lehre. Geboren im kleinasiatischen Abschaum der rassen- losen Sklaven, grossgezogen in den unrettbar chaotischen, ignoranten, bestialischen Jahrhunderten des untergehenden und untergegangenen römischen Imperiums, war sie edlen Geistern stets zuwider, wenn auch nur wenige es vermochten, sie so vollkommen zu überwinden, wie Origenes und wie jener unbegreiflich hohe Geist, Scotus Erigena. 4) Dass Wenige es vermochten, ist leicht zu verstehen, denn das kirchliche Christentum hatte sich nach und nach zu einer Religion von Himmel 1) Siehe S. 570 und 608. 2) De imitatione Christi, Buch 3., Kap. 2. 3) Siehe z. B. Mysterium magnum, oder Erklärung über das erste Buch Mosis, Kap. 19, § 1. 4) S. 573 und 640. Die enorme Verbreitung von Erigena’s Einteilung der Natur im 13. Jahrhundert (S. 763, 819) zeigt, wie allgemein die Sehnsucht war, diese grauenhafte Ausgeburt orientalischer Phantasie loszuwerden. Luther ist trotz aller Rechtgläubigkeit oft geneigt, sich direkt an Erigena anzuschliessen, auch er schreibt: »Der Mensch hat die Hölle in sich selbst« (Vierzehn Trostmittel I, 1).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 878. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/357>, abgerufen am 29.04.2024.