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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
und Hölle gestaltet; alles Übrige war nebensächlich. Man greife nur zu
welchen alten Chroniken man will, die Furcht vor der Hölle wird man
als die wirksamste, meistens als die einzige religiöse Triebfeder am Werke
sehen. Die immensen Latifundien der Kirche, ihre unberechenbaren Ein-
nahmen aus Ablässen und dergleichen entstammen fast alle der Furcht
vor der Hölle. Indem später die Jesuiten diese Furcht vor der Hölle
ohne Umschweife zum Angelpunkt aller Religion machten,1) handelten
sie insofern ganz logisch, und bald ernteten sie den Lohn der kon-
sequenten Aufrichtigkeit, denn Himmel und Hölle, Lohn und Strafe
bilden heute mehr als je die eigentliche oder mindestens die wirksame
Unterlage unserer kirchlichen Sittenlehre.2) "Otez la crainte de l'enfer
a un chretien, et vous lui oterez sa croyance
", urteilt nicht ganz mit
Unrecht Diderot.3) Bedenkt man das alles, so wird man begreifen,
welche grosse Bedeutung es hatte, wenn ein Eckhart die schöne Lehre
entwickelte: "Wäre weder Hölle noch Himmelreich, noch dann wollte
ich Gott minnen, dich süssen Vater, und deine hohe Natur", und wenn
er hinzufügt: "das rechte, vollendete Wesen des Geistes ist, dass er
Gott seiner eigenen Güte wegen liebt, und gäbe es auch weder Himmel
noch Hölle.4)" Etwa fünfzig Jahre später spricht der unbekannte Ver-
fasser der Theologia deutsch, jenes herrlichen Monumentes deutscher
Mystik in katholischem Gewande, sich viel bestimmter aus, denn er
betitelt sein zehntes Kapitel: "Wie die volkomen menschen vorloren
haben forcht der helle und begerung des himelriches", und er führt
dann aus, dass eben in der Befreiung von diesen Vorstellungen sich
die Vollkommenheit zeige: "es stehen diese Menschen in einer Frei-
heit,
also dass sie verloren haben Furcht der Pein oder der Hölle
und Hoffnung des Lohnes oder des Himmelreiches, vielmehr sie leben
in lauterer Unterthänigkeit und Gehorsam der ewigen Güte, in ganzer
Freiheit
inbrünstiger Liebe." Es ist wohl kaum nötig, auszuführen,
dass zwischen dieser Freiheit und der "schlotternden Angst", welche

1) Siehe S. 626 u. s. w.
2) Die Jesuiten sind nur konsequenter als die anderen. Ich erinnere mich
ein zwölfjähriges deutsches Mädchen nach einer Religionsstunde in Weinkrämpfen
liegen gesehen zu haben, eine solche Furcht hatte der lutherische Duodecimopapst
dem unschuldigen Kind vor der Hölle eingeflösst. Ein derartiger Unterricht ge-
hört vor das Forum der Sittenpolizei.
3) Pensees philosophiques, XVII.
4) Vergl. das 12. Traktat und die Glosse dazu. Auch Franz von Assisi legte
fast gar kein Gewicht auf die Hölle und nicht viel mehr auf den Himmel (Sabatier
a. a. O., S. 308).

Weltanschauung und Religion.
und Hölle gestaltet; alles Übrige war nebensächlich. Man greife nur zu
welchen alten Chroniken man will, die Furcht vor der Hölle wird man
als die wirksamste, meistens als die einzige religiöse Triebfeder am Werke
sehen. Die immensen Latifundien der Kirche, ihre unberechenbaren Ein-
nahmen aus Ablässen und dergleichen entstammen fast alle der Furcht
vor der Hölle. Indem später die Jesuiten diese Furcht vor der Hölle
ohne Umschweife zum Angelpunkt aller Religion machten,1) handelten
sie insofern ganz logisch, und bald ernteten sie den Lohn der kon-
sequenten Aufrichtigkeit, denn Himmel und Hölle, Lohn und Strafe
bilden heute mehr als je die eigentliche oder mindestens die wirksame
Unterlage unserer kirchlichen Sittenlehre.2) »Ôtez la crainte de l’enfer
à un chrétien, et vous lui ôterez sa croyance
«, urteilt nicht ganz mit
Unrecht Diderot.3) Bedenkt man das alles, so wird man begreifen,
welche grosse Bedeutung es hatte, wenn ein Eckhart die schöne Lehre
entwickelte: »Wäre weder Hölle noch Himmelreich, noch dann wollte
ich Gott minnen, dich süssen Vater, und deine hohe Natur«, und wenn
er hinzufügt: »das rechte, vollendete Wesen des Geistes ist, dass er
Gott seiner eigenen Güte wegen liebt, und gäbe es auch weder Himmel
noch Hölle.4)« Etwa fünfzig Jahre später spricht der unbekannte Ver-
fasser der Theologia deutsch, jenes herrlichen Monumentes deutscher
Mystik in katholischem Gewande, sich viel bestimmter aus, denn er
betitelt sein zehntes Kapitel: »Wie die volkomen menschen vorloren
haben forcht der helle und begerung des himelriches«, und er führt
dann aus, dass eben in der Befreiung von diesen Vorstellungen sich
die Vollkommenheit zeige: »es stehen diese Menschen in einer Frei-
heit,
also dass sie verloren haben Furcht der Pein oder der Hölle
und Hoffnung des Lohnes oder des Himmelreiches, vielmehr sie leben
in lauterer Unterthänigkeit und Gehorsam der ewigen Güte, in ganzer
Freiheit
inbrünstiger Liebe.« Es ist wohl kaum nötig, auszuführen,
dass zwischen dieser Freiheit und der »schlotternden Angst«, welche

1) Siehe S. 626 u. s. w.
2) Die Jesuiten sind nur konsequenter als die anderen. Ich erinnere mich
ein zwölfjähriges deutsches Mädchen nach einer Religionsstunde in Weinkrämpfen
liegen gesehen zu haben, eine solche Furcht hatte der lutherische Duodecimopapst
dem unschuldigen Kind vor der Hölle eingeflösst. Ein derartiger Unterricht ge-
hört vor das Forum der Sittenpolizei.
3) Pensées philosophiques, XVII.
4) Vergl. das 12. Traktat und die Glosse dazu. Auch Franz von Assisi legte
fast gar kein Gewicht auf die Hölle und nicht viel mehr auf den Himmel (Sabatier
a. a. O., S. 308).
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[879/0358] Weltanschauung und Religion. und Hölle gestaltet; alles Übrige war nebensächlich. Man greife nur zu welchen alten Chroniken man will, die Furcht vor der Hölle wird man als die wirksamste, meistens als die einzige religiöse Triebfeder am Werke sehen. Die immensen Latifundien der Kirche, ihre unberechenbaren Ein- nahmen aus Ablässen und dergleichen entstammen fast alle der Furcht vor der Hölle. Indem später die Jesuiten diese Furcht vor der Hölle ohne Umschweife zum Angelpunkt aller Religion machten, 1) handelten sie insofern ganz logisch, und bald ernteten sie den Lohn der kon- sequenten Aufrichtigkeit, denn Himmel und Hölle, Lohn und Strafe bilden heute mehr als je die eigentliche oder mindestens die wirksame Unterlage unserer kirchlichen Sittenlehre. 2) »Ôtez la crainte de l’enfer à un chrétien, et vous lui ôterez sa croyance«, urteilt nicht ganz mit Unrecht Diderot. 3) Bedenkt man das alles, so wird man begreifen, welche grosse Bedeutung es hatte, wenn ein Eckhart die schöne Lehre entwickelte: »Wäre weder Hölle noch Himmelreich, noch dann wollte ich Gott minnen, dich süssen Vater, und deine hohe Natur«, und wenn er hinzufügt: »das rechte, vollendete Wesen des Geistes ist, dass er Gott seiner eigenen Güte wegen liebt, und gäbe es auch weder Himmel noch Hölle. 4)« Etwa fünfzig Jahre später spricht der unbekannte Ver- fasser der Theologia deutsch, jenes herrlichen Monumentes deutscher Mystik in katholischem Gewande, sich viel bestimmter aus, denn er betitelt sein zehntes Kapitel: »Wie die volkomen menschen vorloren haben forcht der helle und begerung des himelriches«, und er führt dann aus, dass eben in der Befreiung von diesen Vorstellungen sich die Vollkommenheit zeige: »es stehen diese Menschen in einer Frei- heit, also dass sie verloren haben Furcht der Pein oder der Hölle und Hoffnung des Lohnes oder des Himmelreiches, vielmehr sie leben in lauterer Unterthänigkeit und Gehorsam der ewigen Güte, in ganzer Freiheit inbrünstiger Liebe.« Es ist wohl kaum nötig, auszuführen, dass zwischen dieser Freiheit und der »schlotternden Angst«, welche 1) Siehe S. 626 u. s. w. 2) Die Jesuiten sind nur konsequenter als die anderen. Ich erinnere mich ein zwölfjähriges deutsches Mädchen nach einer Religionsstunde in Weinkrämpfen liegen gesehen zu haben, eine solche Furcht hatte der lutherische Duodecimopapst dem unschuldigen Kind vor der Hölle eingeflösst. Ein derartiger Unterricht ge- hört vor das Forum der Sittenpolizei. 3) Pensées philosophiques, XVII. 4) Vergl. das 12. Traktat und die Glosse dazu. Auch Franz von Assisi legte fast gar kein Gewicht auf die Hölle und nicht viel mehr auf den Himmel (Sabatier a. a. O., S. 308).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 879. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/358>, abgerufen am 29.04.2024.