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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
weckt, und das "Rasen mit Vernunft und Empfindung", das den
milden Kant so ausser Rand und Band gebracht hatte, zu einem
Schauen geklärt; auf eine von Irrlichtern beleuchtete Nacht folgte
die Dämmerung eines neuen Tages, und der Genius der neuen ger-
manischen Weltanschauung durfte seiner vergleichenden Anatomie das
herrliche Gedicht beidrucken, das mit den Worten beginnt:

Wagt ihr, also bereitet, die letzte Stufe zu steigen
Dieses Gipfels, so reicht mir die Hand und öffnet den freien
Blick ins weite Feld der Natur.

und mit den Worten schliesst:

Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur; du fühlest dich fähig,
Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang,
Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke
Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse,
Dass du schauest, nicht schwärmst, die liebliche, volle Gewissheit.

Dass die Humanisten in einem gewissen Sinne den direkten Gegen-Die
Humanisten.

satz zu den Mystikern bilden, sticht in die Augen; doch besteht hier
kein eigentlicher Widerspruch. So stellt z. B. Böhme, trotzdem er kein
gelehrter Mann war, die Heiden, insofern sie "Kinder des freien Willens"
seien, sehr hoch und meint, "in ihnen hat der Geist der Freiheit
grosse Wunder eröffnet, als es an ihrer hinterlassenen Weisheit zu er-
sehen ist";1) ja, er behauptet kühn: "in diesen hochverständigen Heiden
spiegelieret sich das innere heilige Reich".2) Und andrerseits geben sich
die echten Humanisten (wo sie es wagen) fast alle mit der vorhin be-
sprochenen Kernfrage aller Sittlichkeitslehre viel ab und kommen ganz
allgemein mit Pomponazzi (1462--1525) zu dem Schlusse: eine Tugend,
welche auf Lohn ausgehe, sei keine Tugend, Furcht und Hoffnung als
sittliche Triebfedern zu betrachten, sei ein kindischer Standpunkt, nur
des rohen Volkes würdig, der Gedanke an Unsterblichkeit sei rein
philosophisch zu untersuchen und komme für die Sittenlehre gar nicht
in Betracht u. s. w.3)

Die Humanisten sind ebenso eifrig wie die Mystiker beschäftigt,
die von Rom aufgedrungene religiöse Weltanschauung niederzureissen
und eine andere an ihrer Stelle zu errichten, nur liegt der Schwerpunkt
ihrer Leistungen an einem anderen Ort. Ihre Zerstörungswaffe ist die

1) Mysterium pansophicum, 8. Text, § 9.
2) Mysterium magnum, Kap. 35, § 24.
3) Tractatus de immortalitate animae (ich referiere nach F. A. Lange).
57*

Weltanschauung und Religion.
weckt, und das »Rasen mit Vernunft und Empfindung«, das den
milden Kant so ausser Rand und Band gebracht hatte, zu einem
Schauen geklärt; auf eine von Irrlichtern beleuchtete Nacht folgte
die Dämmerung eines neuen Tages, und der Genius der neuen ger-
manischen Weltanschauung durfte seiner vergleichenden Anatomie das
herrliche Gedicht beidrucken, das mit den Worten beginnt:

Wagt ihr, also bereitet, die letzte Stufe zu steigen
Dieses Gipfels, so reicht mir die Hand und öffnet den freien
Blick ins weite Feld der Natur.

und mit den Worten schliesst:

Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur; du fühlest dich fähig,
Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang,
Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke
Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse,
Dass du schauest, nicht schwärmst, die liebliche, volle Gewissheit.

Dass die Humanisten in einem gewissen Sinne den direkten Gegen-Die
Humanisten.

satz zu den Mystikern bilden, sticht in die Augen; doch besteht hier
kein eigentlicher Widerspruch. So stellt z. B. Böhme, trotzdem er kein
gelehrter Mann war, die Heiden, insofern sie »Kinder des freien Willens«
seien, sehr hoch und meint, »in ihnen hat der Geist der Freiheit
grosse Wunder eröffnet, als es an ihrer hinterlassenen Weisheit zu er-
sehen ist«;1) ja, er behauptet kühn: »in diesen hochverständigen Heiden
spiegelieret sich das innere heilige Reich«.2) Und andrerseits geben sich
die echten Humanisten (wo sie es wagen) fast alle mit der vorhin be-
sprochenen Kernfrage aller Sittlichkeitslehre viel ab und kommen ganz
allgemein mit Pomponazzi (1462—1525) zu dem Schlusse: eine Tugend,
welche auf Lohn ausgehe, sei keine Tugend, Furcht und Hoffnung als
sittliche Triebfedern zu betrachten, sei ein kindischer Standpunkt, nur
des rohen Volkes würdig, der Gedanke an Unsterblichkeit sei rein
philosophisch zu untersuchen und komme für die Sittenlehre gar nicht
in Betracht u. s. w.3)

Die Humanisten sind ebenso eifrig wie die Mystiker beschäftigt,
die von Rom aufgedrungene religiöse Weltanschauung niederzureissen
und eine andere an ihrer Stelle zu errichten, nur liegt der Schwerpunkt
ihrer Leistungen an einem anderen Ort. Ihre Zerstörungswaffe ist die

1) Mysterium pansophicum, 8. Text, § 9.
2) Mysterium magnum, Kap. 35, § 24.
3) Tractatus de immortalitate animae (ich referiere nach F. A. Lange).
57*
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[891/0370] Weltanschauung und Religion. weckt, und das »Rasen mit Vernunft und Empfindung«, das den milden Kant so ausser Rand und Band gebracht hatte, zu einem Schauen geklärt; auf eine von Irrlichtern beleuchtete Nacht folgte die Dämmerung eines neuen Tages, und der Genius der neuen ger- manischen Weltanschauung durfte seiner vergleichenden Anatomie das herrliche Gedicht beidrucken, das mit den Worten beginnt: Wagt ihr, also bereitet, die letzte Stufe zu steigen Dieses Gipfels, so reicht mir die Hand und öffnet den freien Blick ins weite Feld der Natur. und mit den Worten schliesst: Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur; du fühlest dich fähig, Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse, Dass du schauest, nicht schwärmst, die liebliche, volle Gewissheit. Dass die Humanisten in einem gewissen Sinne den direkten Gegen- satz zu den Mystikern bilden, sticht in die Augen; doch besteht hier kein eigentlicher Widerspruch. So stellt z. B. Böhme, trotzdem er kein gelehrter Mann war, die Heiden, insofern sie »Kinder des freien Willens« seien, sehr hoch und meint, »in ihnen hat der Geist der Freiheit grosse Wunder eröffnet, als es an ihrer hinterlassenen Weisheit zu er- sehen ist«; 1) ja, er behauptet kühn: »in diesen hochverständigen Heiden spiegelieret sich das innere heilige Reich«. 2) Und andrerseits geben sich die echten Humanisten (wo sie es wagen) fast alle mit der vorhin be- sprochenen Kernfrage aller Sittlichkeitslehre viel ab und kommen ganz allgemein mit Pomponazzi (1462—1525) zu dem Schlusse: eine Tugend, welche auf Lohn ausgehe, sei keine Tugend, Furcht und Hoffnung als sittliche Triebfedern zu betrachten, sei ein kindischer Standpunkt, nur des rohen Volkes würdig, der Gedanke an Unsterblichkeit sei rein philosophisch zu untersuchen und komme für die Sittenlehre gar nicht in Betracht u. s. w. 3) Die Humanisten. Die Humanisten sind ebenso eifrig wie die Mystiker beschäftigt, die von Rom aufgedrungene religiöse Weltanschauung niederzureissen und eine andere an ihrer Stelle zu errichten, nur liegt der Schwerpunkt ihrer Leistungen an einem anderen Ort. Ihre Zerstörungswaffe ist die 1) Mysterium pansophicum, 8. Text, § 9. 2) Mysterium magnum, Kap. 35, § 24. 3) Tractatus de immortalitate animae (ich referiere nach F. A. Lange). 57*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 891. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/370>, abgerufen am 29.04.2024.