Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Weltanschauung und Religion.
lichen und ewig unfruchtbaren Gattung: Philosophie als Logik. Theo-
logie findet ihre Berechtigung darin, dass sie entweder einem grossen
Gedanken oder einem politischen Zwecke dient, Mystik ist eine un-
mittelbare Erscheinung des Lebens; die pure Logik aber zur Deutung
der Welt (der äusseren und der inneren) heranziehen, sie und nicht
die Anschauung, nicht die Erfahrung zum Gesetzgeber erheben, heisst
einfach die Wahrheit mutwillig in Ketten schlagen und bedeutet im
Grunde genommen (wie ich das im ersten Kapitel zu zeigen gesucht
habe) nichts weniger als einen neuen Ausbruch des Aberglaubens.
Darum sehen wir die neue Periode der naturforschenden Philosophie
mit einer allgemeinen Empörung gegen Aristoteles beginnen. Denn
dieser Hellene hatte nicht allein die formalen Gesetze des Denkens
analysiert und dadurch ihren Gebrauch sicherer gemacht, wofür er die
Dankbarkeit aller kommenden Geschlechter verdiente, sondern er hatte
sämtliche Probleme des noch Unerforschten und des überhaupt Un-
erforschlichen auf logischem Wege zu lösen unternommen; hierdurch
war Wissenschaft unmöglich geworden.1) Denn die stillschweigende
Voraussetzung der gesetzgebenden Logik ist, dass der Mensch das
Mass aller Dinge sei, wogegen er in Wahrheit -- als bloss logisches
Wesen -- nicht einmal das Mass seiner selbst ist. Telesius (1508--86),
ein bedeutender Mathematiker und Naturforscher aus Neapel, ein Vor-
arbeiter Harvey's für die Entdeckung des Blutumlaufes, ist vielleicht
der erste, der es sich zur besonderen Aufgabe machte, das arme
Menschenhirn von diesem aristotelischen Spinngewebe zu säubern.
Freilich hatte Roger Bacon schon schüchterne Anfänge dazu gemacht,
und Leonardo hatte mit der Unverfrorenheit des Genies die aristo-
telische Seelen- und Gotteslehre eine "erlogene Wissenschaft" genannt
(S. 108); auch Luther soll schon in seiner frühesten Zeit, als er noch im
Schosse der römischen Kirche weilte, ein heftiger Gegner des Aristoteles
gewesen sein und vorgehabt haben, die Philosophie von seinem Einfluss
zu säubern;2) doch jetzt erst kamen die Männer, welche die Lüge mit
eigenen Händen wegzuräumen den Mut hatten, um für die Wahrheit
Platz zu bekommen. Nicht allein und nicht hauptsächlich auf Aristo-

1) Man vergl. die Ausführungen S. 113 fg. und unter "Wissenschaft"
S. 787 fg.
2) Diese Behauptung entnehme ich dem Discours de la conformite de la foi
avec la raison,
§ 12, von Leibniz. Später meinte Luther: "Ich darf es sagen, dass
ein Töpfer mehr Kunst hat von natürlichen Dingen, denn in jenen Büchern (des
Aristoteles) geschrieben steht" (Sendschreiben an den Adel, Punkt 25).

Weltanschauung und Religion.
lichen und ewig unfruchtbaren Gattung: Philosophie als Logik. Theo-
logie findet ihre Berechtigung darin, dass sie entweder einem grossen
Gedanken oder einem politischen Zwecke dient, Mystik ist eine un-
mittelbare Erscheinung des Lebens; die pure Logik aber zur Deutung
der Welt (der äusseren und der inneren) heranziehen, sie und nicht
die Anschauung, nicht die Erfahrung zum Gesetzgeber erheben, heisst
einfach die Wahrheit mutwillig in Ketten schlagen und bedeutet im
Grunde genommen (wie ich das im ersten Kapitel zu zeigen gesucht
habe) nichts weniger als einen neuen Ausbruch des Aberglaubens.
Darum sehen wir die neue Periode der naturforschenden Philosophie
mit einer allgemeinen Empörung gegen Aristoteles beginnen. Denn
dieser Hellene hatte nicht allein die formalen Gesetze des Denkens
analysiert und dadurch ihren Gebrauch sicherer gemacht, wofür er die
Dankbarkeit aller kommenden Geschlechter verdiente, sondern er hatte
sämtliche Probleme des noch Unerforschten und des überhaupt Un-
erforschlichen auf logischem Wege zu lösen unternommen; hierdurch
war Wissenschaft unmöglich geworden.1) Denn die stillschweigende
Voraussetzung der gesetzgebenden Logik ist, dass der Mensch das
Mass aller Dinge sei, wogegen er in Wahrheit — als bloss logisches
Wesen — nicht einmal das Mass seiner selbst ist. Telesius (1508—86),
ein bedeutender Mathematiker und Naturforscher aus Neapel, ein Vor-
arbeiter Harvey’s für die Entdeckung des Blutumlaufes, ist vielleicht
der erste, der es sich zur besonderen Aufgabe machte, das arme
Menschenhirn von diesem aristotelischen Spinngewebe zu säubern.
Freilich hatte Roger Bacon schon schüchterne Anfänge dazu gemacht,
und Leonardo hatte mit der Unverfrorenheit des Genies die aristo-
telische Seelen- und Gotteslehre eine »erlogene Wissenschaft« genannt
(S. 108); auch Luther soll schon in seiner frühesten Zeit, als er noch im
Schosse der römischen Kirche weilte, ein heftiger Gegner des Aristoteles
gewesen sein und vorgehabt haben, die Philosophie von seinem Einfluss
zu säubern;2) doch jetzt erst kamen die Männer, welche die Lüge mit
eigenen Händen wegzuräumen den Mut hatten, um für die Wahrheit
Platz zu bekommen. Nicht allein und nicht hauptsächlich auf Aristo-

1) Man vergl. die Ausführungen S. 113 fg. und unter »Wissenschaft«
S. 787 fg.
2) Diese Behauptung entnehme ich dem Discours de la conformité de la foi
avec la raison,
§ 12, von Leibniz. Später meinte Luther: »Ich darf es sagen, dass
ein Töpfer mehr Kunst hat von natürlichen Dingen, denn in jenen Büchern (des
Aristoteles) geschrieben steht« (Sendschreiben an den Adel, Punkt 25).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0378" n="899"/><fw place="top" type="header">Weltanschauung und Religion.</fw><lb/>
lichen und ewig unfruchtbaren Gattung: Philosophie als Logik. Theo-<lb/>
logie findet ihre Berechtigung darin, dass sie entweder einem grossen<lb/>
Gedanken oder einem politischen Zwecke dient, Mystik ist eine un-<lb/>
mittelbare Erscheinung des Lebens; die pure Logik aber zur Deutung<lb/>
der Welt (der äusseren und der inneren) heranziehen, sie und nicht<lb/>
die Anschauung, nicht die Erfahrung zum Gesetzgeber erheben, heisst<lb/>
einfach die Wahrheit mutwillig in Ketten schlagen und bedeutet im<lb/>
Grunde genommen (wie ich das im ersten Kapitel zu zeigen gesucht<lb/>
habe) nichts weniger als einen neuen Ausbruch des Aberglaubens.<lb/>
Darum sehen wir die neue Periode der naturforschenden Philosophie<lb/>
mit einer allgemeinen Empörung gegen Aristoteles beginnen. Denn<lb/>
dieser Hellene hatte nicht allein die formalen Gesetze des Denkens<lb/>
analysiert und dadurch ihren Gebrauch sicherer gemacht, wofür er die<lb/>
Dankbarkeit aller kommenden Geschlechter verdiente, sondern er hatte<lb/>
sämtliche Probleme des noch Unerforschten und des überhaupt Un-<lb/>
erforschlichen auf logischem Wege zu lösen unternommen; hierdurch<lb/>
war Wissenschaft unmöglich geworden.<note place="foot" n="1)">Man vergl. die Ausführungen S. 113 fg. und unter »Wissenschaft«<lb/>
S. 787 fg.</note> Denn die stillschweigende<lb/>
Voraussetzung der gesetzgebenden Logik ist, dass der Mensch das<lb/>
Mass aller Dinge sei, wogegen er in Wahrheit &#x2014; als bloss logisches<lb/>
Wesen &#x2014; nicht einmal das Mass seiner selbst ist. Telesius (1508&#x2014;86),<lb/>
ein bedeutender Mathematiker und Naturforscher aus Neapel, ein Vor-<lb/>
arbeiter Harvey&#x2019;s für die Entdeckung des Blutumlaufes, ist vielleicht<lb/>
der erste, der es sich zur besonderen Aufgabe machte, das arme<lb/>
Menschenhirn von diesem aristotelischen Spinngewebe zu säubern.<lb/>
Freilich hatte Roger Bacon schon schüchterne Anfänge dazu gemacht,<lb/>
und Leonardo hatte mit der Unverfrorenheit des Genies die aristo-<lb/>
telische Seelen- und Gotteslehre eine »erlogene Wissenschaft« genannt<lb/>
(S. 108); auch Luther soll schon in seiner frühesten Zeit, als er noch im<lb/>
Schosse der römischen Kirche weilte, ein heftiger Gegner des Aristoteles<lb/>
gewesen sein und vorgehabt haben, die Philosophie von seinem Einfluss<lb/>
zu säubern;<note place="foot" n="2)">Diese Behauptung entnehme ich dem <hi rendition="#i">Discours de la conformité de la foi<lb/>
avec la raison,</hi> § 12, von Leibniz. Später meinte Luther: »Ich darf es sagen, dass<lb/>
ein Töpfer mehr Kunst hat von natürlichen Dingen, denn in jenen Büchern (des<lb/>
Aristoteles) geschrieben steht« (<hi rendition="#i">Sendschreiben an den Adel,</hi> Punkt 25).</note> doch jetzt erst kamen die Männer, welche die Lüge mit<lb/>
eigenen Händen wegzuräumen den Mut hatten, um für die Wahrheit<lb/>
Platz zu bekommen. Nicht allein und nicht hauptsächlich auf Aristo-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[899/0378] Weltanschauung und Religion. lichen und ewig unfruchtbaren Gattung: Philosophie als Logik. Theo- logie findet ihre Berechtigung darin, dass sie entweder einem grossen Gedanken oder einem politischen Zwecke dient, Mystik ist eine un- mittelbare Erscheinung des Lebens; die pure Logik aber zur Deutung der Welt (der äusseren und der inneren) heranziehen, sie und nicht die Anschauung, nicht die Erfahrung zum Gesetzgeber erheben, heisst einfach die Wahrheit mutwillig in Ketten schlagen und bedeutet im Grunde genommen (wie ich das im ersten Kapitel zu zeigen gesucht habe) nichts weniger als einen neuen Ausbruch des Aberglaubens. Darum sehen wir die neue Periode der naturforschenden Philosophie mit einer allgemeinen Empörung gegen Aristoteles beginnen. Denn dieser Hellene hatte nicht allein die formalen Gesetze des Denkens analysiert und dadurch ihren Gebrauch sicherer gemacht, wofür er die Dankbarkeit aller kommenden Geschlechter verdiente, sondern er hatte sämtliche Probleme des noch Unerforschten und des überhaupt Un- erforschlichen auf logischem Wege zu lösen unternommen; hierdurch war Wissenschaft unmöglich geworden. 1) Denn die stillschweigende Voraussetzung der gesetzgebenden Logik ist, dass der Mensch das Mass aller Dinge sei, wogegen er in Wahrheit — als bloss logisches Wesen — nicht einmal das Mass seiner selbst ist. Telesius (1508—86), ein bedeutender Mathematiker und Naturforscher aus Neapel, ein Vor- arbeiter Harvey’s für die Entdeckung des Blutumlaufes, ist vielleicht der erste, der es sich zur besonderen Aufgabe machte, das arme Menschenhirn von diesem aristotelischen Spinngewebe zu säubern. Freilich hatte Roger Bacon schon schüchterne Anfänge dazu gemacht, und Leonardo hatte mit der Unverfrorenheit des Genies die aristo- telische Seelen- und Gotteslehre eine »erlogene Wissenschaft« genannt (S. 108); auch Luther soll schon in seiner frühesten Zeit, als er noch im Schosse der römischen Kirche weilte, ein heftiger Gegner des Aristoteles gewesen sein und vorgehabt haben, die Philosophie von seinem Einfluss zu säubern; 2) doch jetzt erst kamen die Männer, welche die Lüge mit eigenen Händen wegzuräumen den Mut hatten, um für die Wahrheit Platz zu bekommen. Nicht allein und nicht hauptsächlich auf Aristo- 1) Man vergl. die Ausführungen S. 113 fg. und unter »Wissenschaft« S. 787 fg. 2) Diese Behauptung entnehme ich dem Discours de la conformité de la foi avec la raison, § 12, von Leibniz. Später meinte Luther: »Ich darf es sagen, dass ein Töpfer mehr Kunst hat von natürlichen Dingen, denn in jenen Büchern (des Aristoteles) geschrieben steht« (Sendschreiben an den Adel, Punkt 25).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/378
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 899. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/378>, abgerufen am 29.04.2024.