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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
diesem ihm bestbekannten Gegenstande, dem Staate, widmete. Doch
haben unsere epochemachenden Philosophen thatsächlich alle in der
Disciplin der exakten Wissenschaften ihre Sporen verdient und besitzen
ausserdem eine weitreichende Kultur, d. h. also sie verfügen über Methode
und über Stoff. So ist z. B. Rene Descartes (1596--1650) von Hause
aus Mathematiker und das hiess in jenen Zeiten, wo die Mathematik
täglich aus den Bedürfnissen der Entdecker hervorwuchs, Physiker und
Astronom. Die Natur ist ihm also in ihren Bewegungserscheinungen
von Jugend auf vertraut. Ehe er zu philosophieren begann, wurde
er aber noch dazu eifriger Anatom und Physiolog, so dass er nicht
allein als Physiker eine Abhandlung über das Wesen des Lichtes, sondern
auch als Embryolog eine andere über die Entwickelung des Foetus
schreiben konnte. Ausserdem hat er mit philosophischer Absichtlichkeit
"im grossen Buch der Welt fleissig gelesen", (wie er selber berichtet);
er ist Soldat, Weltmann, Hofmann gewesen; er hat die Tonkunst so
erfolgreich gepflegt, dass er veranlasst wurde, einen "Grundriss der
Musik
" herauszugeben; das Fechten hat er so eifrig betrieben, dass
er eine Theorie der Fechtkunst verfasste: das Alles, er teilt es
uns mit, um richtiger denken zu lernen, als die Gelehrten, die ihr
Lebenlang im Studierzimmer eingeschlossen bleiben.1) Und nun erst,
geübt durch die genaue Beobachtung der Natur ausser ihm, kehrte
der seltene Mann den Blick nach innen und beobachtete die Natur
im eigenen Selbst. Dieses Verhalten ist fortan -- trotz aller Schattie-
rungen im Einzelnen -- typisch. Leibniz war allerdings in der Haupt-
sache auf Mathematik beschränkt, doch gerade dieser Besitz verhinderte,
dass er jemals -- trotz allem von Jugend auf ihm eingeimpften Scho-
lasticismus -- die mechanische Auffassung der Naturphänomene aufgab;
wir haben leicht heute über die prästabilierte Harmonie lachen, vergessen
wir aber nicht, dass diese monströse Annahme das treue Festhalten an
naturwissenschaftlicher Methode und Erkenntnis bezeugt.2) Locke ist

1) Discours de la methode pour bien conduire sa raison et chercher la verite dans
les sciences,
Teil I.
2) Das System des Leibniz ist ein letzter, heroischer Versuch, echt wissenschaft-
liche Methode in den Dienst einer historischen, absoluten Gotteslehre zu stellen,
welche in Wahrheit jede wissenschaftliche Naturkenntnis unbedingt aufhebt. Im
Gegensatz zu Thomas von Aquin geht hier der Versuch, Glaube und Vernunft in
Einklang zu bringen, von der Vernunft aus, nicht vom Glauben. Vernunft heisst
aber hier nicht allein logische Ratiocination, sondern grosse mathematische Grund-
prinzipien wirklicher Naturerkenntnis; und darum, weil bei Leibniz ein unüber-
windliches Element empirischer, nicht wegzudeutender Wahrheit vorhanden ist,

Weltanschauung und Religion.
diesem ihm bestbekannten Gegenstande, dem Staate, widmete. Doch
haben unsere epochemachenden Philosophen thatsächlich alle in der
Disciplin der exakten Wissenschaften ihre Sporen verdient und besitzen
ausserdem eine weitreichende Kultur, d. h. also sie verfügen über Methode
und über Stoff. So ist z. B. René Descartes (1596—1650) von Hause
aus Mathematiker und das hiess in jenen Zeiten, wo die Mathematik
täglich aus den Bedürfnissen der Entdecker hervorwuchs, Physiker und
Astronom. Die Natur ist ihm also in ihren Bewegungserscheinungen
von Jugend auf vertraut. Ehe er zu philosophieren begann, wurde
er aber noch dazu eifriger Anatom und Physiolog, so dass er nicht
allein als Physiker eine Abhandlung über das Wesen des Lichtes, sondern
auch als Embryolog eine andere über die Entwickelung des Foetus
schreiben konnte. Ausserdem hat er mit philosophischer Absichtlichkeit
»im grossen Buch der Welt fleissig gelesen«, (wie er selber berichtet);
er ist Soldat, Weltmann, Hofmann gewesen; er hat die Tonkunst so
erfolgreich gepflegt, dass er veranlasst wurde, einen »Grundriss der
Musik
« herauszugeben; das Fechten hat er so eifrig betrieben, dass
er eine Theorie der Fechtkunst verfasste: das Alles, er teilt es
uns mit, um richtiger denken zu lernen, als die Gelehrten, die ihr
Lebenlang im Studierzimmer eingeschlossen bleiben.1) Und nun erst,
geübt durch die genaue Beobachtung der Natur ausser ihm, kehrte
der seltene Mann den Blick nach innen und beobachtete die Natur
im eigenen Selbst. Dieses Verhalten ist fortan — trotz aller Schattie-
rungen im Einzelnen — typisch. Leibniz war allerdings in der Haupt-
sache auf Mathematik beschränkt, doch gerade dieser Besitz verhinderte,
dass er jemals — trotz allem von Jugend auf ihm eingeimpften Scho-
lasticismus — die mechanische Auffassung der Naturphänomene aufgab;
wir haben leicht heute über die prästabilierte Harmonie lachen, vergessen
wir aber nicht, dass diese monströse Annahme das treue Festhalten an
naturwissenschaftlicher Methode und Erkenntnis bezeugt.2) Locke ist

1) Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans
les sciences,
Teil I.
2) Das System des Leibniz ist ein letzter, heroischer Versuch, echt wissenschaft-
liche Methode in den Dienst einer historischen, absoluten Gotteslehre zu stellen,
welche in Wahrheit jede wissenschaftliche Naturkenntnis unbedingt aufhebt. Im
Gegensatz zu Thomas von Aquin geht hier der Versuch, Glaube und Vernunft in
Einklang zu bringen, von der Vernunft aus, nicht vom Glauben. Vernunft heisst
aber hier nicht allein logische Ratiocination, sondern grosse mathematische Grund-
prinzipien wirklicher Naturerkenntnis; und darum, weil bei Leibniz ein unüber-
windliches Element empirischer, nicht wegzudeutender Wahrheit vorhanden ist,
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[901/0380] Weltanschauung und Religion. diesem ihm bestbekannten Gegenstande, dem Staate, widmete. Doch haben unsere epochemachenden Philosophen thatsächlich alle in der Disciplin der exakten Wissenschaften ihre Sporen verdient und besitzen ausserdem eine weitreichende Kultur, d. h. also sie verfügen über Methode und über Stoff. So ist z. B. René Descartes (1596—1650) von Hause aus Mathematiker und das hiess in jenen Zeiten, wo die Mathematik täglich aus den Bedürfnissen der Entdecker hervorwuchs, Physiker und Astronom. Die Natur ist ihm also in ihren Bewegungserscheinungen von Jugend auf vertraut. Ehe er zu philosophieren begann, wurde er aber noch dazu eifriger Anatom und Physiolog, so dass er nicht allein als Physiker eine Abhandlung über das Wesen des Lichtes, sondern auch als Embryolog eine andere über die Entwickelung des Foetus schreiben konnte. Ausserdem hat er mit philosophischer Absichtlichkeit »im grossen Buch der Welt fleissig gelesen«, (wie er selber berichtet); er ist Soldat, Weltmann, Hofmann gewesen; er hat die Tonkunst so erfolgreich gepflegt, dass er veranlasst wurde, einen »Grundriss der Musik« herauszugeben; das Fechten hat er so eifrig betrieben, dass er eine Theorie der Fechtkunst verfasste: das Alles, er teilt es uns mit, um richtiger denken zu lernen, als die Gelehrten, die ihr Lebenlang im Studierzimmer eingeschlossen bleiben. 1) Und nun erst, geübt durch die genaue Beobachtung der Natur ausser ihm, kehrte der seltene Mann den Blick nach innen und beobachtete die Natur im eigenen Selbst. Dieses Verhalten ist fortan — trotz aller Schattie- rungen im Einzelnen — typisch. Leibniz war allerdings in der Haupt- sache auf Mathematik beschränkt, doch gerade dieser Besitz verhinderte, dass er jemals — trotz allem von Jugend auf ihm eingeimpften Scho- lasticismus — die mechanische Auffassung der Naturphänomene aufgab; wir haben leicht heute über die prästabilierte Harmonie lachen, vergessen wir aber nicht, dass diese monströse Annahme das treue Festhalten an naturwissenschaftlicher Methode und Erkenntnis bezeugt. 2) Locke ist 1) Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, Teil I. 2) Das System des Leibniz ist ein letzter, heroischer Versuch, echt wissenschaft- liche Methode in den Dienst einer historischen, absoluten Gotteslehre zu stellen, welche in Wahrheit jede wissenschaftliche Naturkenntnis unbedingt aufhebt. Im Gegensatz zu Thomas von Aquin geht hier der Versuch, Glaube und Vernunft in Einklang zu bringen, von der Vernunft aus, nicht vom Glauben. Vernunft heisst aber hier nicht allein logische Ratiocination, sondern grosse mathematische Grund- prinzipien wirklicher Naturerkenntnis; und darum, weil bei Leibniz ein unüber- windliches Element empirischer, nicht wegzudeutender Wahrheit vorhanden ist,

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 901. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/380>, abgerufen am 29.04.2024.