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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
durch medizinische Studien auf seine philosophischen Gedanken ge-
bracht worden; Berkeley, wenn auch ein Geistlicher, hat schon in
jungen Jahren Physiologie eingehend studiert, und seine geniale Theory
of vision
errät vieles intuitiv, was exakte Wissenschaft erst viel später
bestätigen sollte, zeugt also für den Erfolg der richtigen naturwissen-
schaftlichen Methode bei grosser Beanlagung. Wolf war ungemein
tüchtig, nicht allein auf dem Felde der Mathematik, sondern ebenfalls
auf dem der Physik, und er beherrschte auch die übrige Naturwissen-
schaft seiner Zeit. Hume hat allerdings, so viel mir bekannt, fleissiger
"im Buche der Welt" (wie Descartes es nennt) als im Buche der
Natur gelesen; einerseits Geschichte, andrerseits Psychologie -- nicht
Physik und Physiologie -- waren das Feld seiner exakten Studien;
gerade dies hat auch seine philosophische Spekulation nach gewissen
Richtungen hin bedrückt; wessen Auge für derlei Dinge geschärft ist,
wird bald beobachten, dass Hume's Denken an dem Grundübel leidet,
dass es gar nicht von aussen, sondern nur von innen gespeist wird,
was stets ein Vorwiegen der Logik auf Kosten der aufbauenden,
tastend erfindenden Phantasie bedeutet und wodurch das rein negative
Ergebnis bei so grosser Geisteskraft erklärt wird; Hume ist als Persön-

während Thomas auf beiden Seiten nur mit Schattenbildern operiert, darum
fällt die Absurdität des von Leibniz ersonnenen Systems mehr in die Augen.
Ein in Bezug auf die Natur so grundlos unwissender Mensch wie Thomas konnte
sich und Andere durch sophistische Trugschlüsse irreführen; Leibniz dagegen war
genötigt, die Annahme eines Doppelreiches -- in dem Sinne einer Natur und einer
Supranatur -- in ihrer gänzlichen Unhaltbarkeit aufzudecken und zwar gerade
darum, weil er in der mathematisch-mechanischen Auffassung der Naturphänomene
völlig zu Hause war. Dadurch wurde sein genialer Versuch epochemachend. Dass
Leibniz als Metaphysiker zu den grossen Denkern gehört, beweist schon die eine
Thatsache, dass er die transscendentale Idealität des Raumes behauptete und durch
tiefsinnige mathematisch-philosophische Argumente nachzuweisen suchte, (worüber
Näheres bei Kant: Methaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 2. Stück,
Lehrsatz 4, Anm. 2). Wie grossartig Leibniz als rein naturwissenschaftlicher Denker
war, dafür zeugt seine Theorie, dass die Summe der Kräfte in der Natur un-
veränderlich sei, wodurch das sogenannte Gesetz von der Erhaltung der Energie,
auf welches wir uns als Errungenschaft des 19. Jahrhunderts so viel zu Gute thun,
eigentlich schon ausgesprochen war. Nicht minder bedeutsam ist der extrem in-
dividualistische Charakter von Leibnizen's Philosophie. Im Gegensatz zum Alleins des
Spinozismus (das er perhorresciert) ist für ihn die "Individuation", die "Specifikation"
die Grundlage aller Erkenntnis. "In der ganzen Welt giebt es nicht zwei Wesen,
die absolut ununterscheidbar wären", sagt er. Hier sieht man den echten germanischen
Denker. (Besonders gut ausgeführt in Ludwig Feuerbach's Darstellung der Leibniz'schen
Philosophie,
§ 3.)

Die Entstehung einer neuen Welt.
durch medizinische Studien auf seine philosophischen Gedanken ge-
bracht worden; Berkeley, wenn auch ein Geistlicher, hat schon in
jungen Jahren Physiologie eingehend studiert, und seine geniale Theory
of vision
errät vieles intuitiv, was exakte Wissenschaft erst viel später
bestätigen sollte, zeugt also für den Erfolg der richtigen naturwissen-
schaftlichen Methode bei grosser Beanlagung. Wolf war ungemein
tüchtig, nicht allein auf dem Felde der Mathematik, sondern ebenfalls
auf dem der Physik, und er beherrschte auch die übrige Naturwissen-
schaft seiner Zeit. Hume hat allerdings, so viel mir bekannt, fleissiger
»im Buche der Welt« (wie Descartes es nennt) als im Buche der
Natur gelesen; einerseits Geschichte, andrerseits Psychologie — nicht
Physik und Physiologie — waren das Feld seiner exakten Studien;
gerade dies hat auch seine philosophische Spekulation nach gewissen
Richtungen hin bedrückt; wessen Auge für derlei Dinge geschärft ist,
wird bald beobachten, dass Hume’s Denken an dem Grundübel leidet,
dass es gar nicht von aussen, sondern nur von innen gespeist wird,
was stets ein Vorwiegen der Logik auf Kosten der aufbauenden,
tastend erfindenden Phantasie bedeutet und wodurch das rein negative
Ergebnis bei so grosser Geisteskraft erklärt wird; Hume ist als Persön-

während Thomas auf beiden Seiten nur mit Schattenbildern operiert, darum
fällt die Absurdität des von Leibniz ersonnenen Systems mehr in die Augen.
Ein in Bezug auf die Natur so grundlos unwissender Mensch wie Thomas konnte
sich und Andere durch sophistische Trugschlüsse irreführen; Leibniz dagegen war
genötigt, die Annahme eines Doppelreiches — in dem Sinne einer Natur und einer
Supranatur — in ihrer gänzlichen Unhaltbarkeit aufzudecken und zwar gerade
darum, weil er in der mathematisch-mechanischen Auffassung der Naturphänomene
völlig zu Hause war. Dadurch wurde sein genialer Versuch epochemachend. Dass
Leibniz als Metaphysiker zu den grossen Denkern gehört, beweist schon die eine
Thatsache, dass er die transscendentale Idealität des Raumes behauptete und durch
tiefsinnige mathematisch-philosophische Argumente nachzuweisen suchte, (worüber
Näheres bei Kant: Methaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 2. Stück,
Lehrsatz 4, Anm. 2). Wie grossartig Leibniz als rein naturwissenschaftlicher Denker
war, dafür zeugt seine Theorie, dass die Summe der Kräfte in der Natur un-
veränderlich sei, wodurch das sogenannte Gesetz von der Erhaltung der Energie,
auf welches wir uns als Errungenschaft des 19. Jahrhunderts so viel zu Gute thun,
eigentlich schon ausgesprochen war. Nicht minder bedeutsam ist der extrem in-
dividualistische Charakter von Leibnizen’s Philosophie. Im Gegensatz zum Alleins des
Spinozismus (das er perhorresciert) ist für ihn die »Individuation«, die »Specifikation«
die Grundlage aller Erkenntnis. »In der ganzen Welt giebt es nicht zwei Wesen,
die absolut ununterscheidbar wären«, sagt er. Hier sieht man den echten germanischen
Denker. (Besonders gut ausgeführt in Ludwig Feuerbach’s Darstellung der Leibniz’schen
Philosophie,
§ 3.)
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[902/0381] Die Entstehung einer neuen Welt. durch medizinische Studien auf seine philosophischen Gedanken ge- bracht worden; Berkeley, wenn auch ein Geistlicher, hat schon in jungen Jahren Physiologie eingehend studiert, und seine geniale Theory of vision errät vieles intuitiv, was exakte Wissenschaft erst viel später bestätigen sollte, zeugt also für den Erfolg der richtigen naturwissen- schaftlichen Methode bei grosser Beanlagung. Wolf war ungemein tüchtig, nicht allein auf dem Felde der Mathematik, sondern ebenfalls auf dem der Physik, und er beherrschte auch die übrige Naturwissen- schaft seiner Zeit. Hume hat allerdings, so viel mir bekannt, fleissiger »im Buche der Welt« (wie Descartes es nennt) als im Buche der Natur gelesen; einerseits Geschichte, andrerseits Psychologie — nicht Physik und Physiologie — waren das Feld seiner exakten Studien; gerade dies hat auch seine philosophische Spekulation nach gewissen Richtungen hin bedrückt; wessen Auge für derlei Dinge geschärft ist, wird bald beobachten, dass Hume’s Denken an dem Grundübel leidet, dass es gar nicht von aussen, sondern nur von innen gespeist wird, was stets ein Vorwiegen der Logik auf Kosten der aufbauenden, tastend erfindenden Phantasie bedeutet und wodurch das rein negative Ergebnis bei so grosser Geisteskraft erklärt wird; Hume ist als Persön- 2) 2) während Thomas auf beiden Seiten nur mit Schattenbildern operiert, darum fällt die Absurdität des von Leibniz ersonnenen Systems mehr in die Augen. Ein in Bezug auf die Natur so grundlos unwissender Mensch wie Thomas konnte sich und Andere durch sophistische Trugschlüsse irreführen; Leibniz dagegen war genötigt, die Annahme eines Doppelreiches — in dem Sinne einer Natur und einer Supranatur — in ihrer gänzlichen Unhaltbarkeit aufzudecken und zwar gerade darum, weil er in der mathematisch-mechanischen Auffassung der Naturphänomene völlig zu Hause war. Dadurch wurde sein genialer Versuch epochemachend. Dass Leibniz als Metaphysiker zu den grossen Denkern gehört, beweist schon die eine Thatsache, dass er die transscendentale Idealität des Raumes behauptete und durch tiefsinnige mathematisch-philosophische Argumente nachzuweisen suchte, (worüber Näheres bei Kant: Methaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 2. Stück, Lehrsatz 4, Anm. 2). Wie grossartig Leibniz als rein naturwissenschaftlicher Denker war, dafür zeugt seine Theorie, dass die Summe der Kräfte in der Natur un- veränderlich sei, wodurch das sogenannte Gesetz von der Erhaltung der Energie, auf welches wir uns als Errungenschaft des 19. Jahrhunderts so viel zu Gute thun, eigentlich schon ausgesprochen war. Nicht minder bedeutsam ist der extrem in- dividualistische Charakter von Leibnizen’s Philosophie. Im Gegensatz zum Alleins des Spinozismus (das er perhorresciert) ist für ihn die »Individuation«, die »Specifikation« die Grundlage aller Erkenntnis. »In der ganzen Welt giebt es nicht zwei Wesen, die absolut ununterscheidbar wären«, sagt er. Hier sieht man den echten germanischen Denker. (Besonders gut ausgeführt in Ludwig Feuerbach’s Darstellung der Leibniz’schen Philosophie, § 3.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 902. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/381>, abgerufen am 29.04.2024.