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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
lichkeit ungleich bedeutender als Locke und hat doch nicht (ich glaube
mich nicht zu irren) so viele konstruktive Ideen in die Welt gesetzt.
Und dennoch rechnen wir ihn zu den Naturforschern, denn innerhalb
des rein menschlichen Gebietes hat er so scharf und treu beobachtet
wie keiner seiner Vorgänger und ist nie abgewichen von der Methode,
die er in seiner ersten Schrift aufstellte: Beobachtung und Experiment.1)
Bei Kant schliesslich bilden umfassende Kenntnisse in allen Wissens-
zweigen und eingehende Beschäftigung mit der Naturwissenschaft
während eines ganzen langen Lebens einen Zug, der zu oft übersehen
wird. Kant's schriftstellerische Thätigkeit im Dienste der Naturwissen-
schaft erstreckt sich von seinem 20. bis zu seinem 70. Jahre, von
seinen Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte,
die er im Jahre 1744 auszuarbeiten begann, bis zu seinem 1794 er-
schienenen Aufsatz Etwas über den Einfluss des Mondes auf die
Witterung.
Während dreissig Jahre waren seine besuchtesten Vor-
lesungen die, welche er im Winter über Anthropologie, im Sommer
über physikalische Geographie hielt; und der tägliche Genosse seiner
letzten Jahre, Wasianski, erzählt, dass, bis an sein Ende, Kant's sehr
lebhafte Tischunterhaltung "grösstenteils aus der Meteorologie, Physik,
Chemie, Naturgeschichte und Politik entlehnt war."2) Allerdings war
Kant nur ein Denker über Naturbeobachtungen, nicht (so viel ich
weiss) jemals selber ein Beobachter und Experimentierender, wie dies
Descartes gewesen war; doch ein wie vorzüglicher indirekter Beob-
achter er war, zeigen solche Schriften wie seine Beschreibung des
grossen Erdbebens vom 1. November 1755, seine Betrachtungen über
die Vulkane des Mondes, über die Theorie der Winde und manche
andere; und ich brauche wohl kaum daran zu erinnern, dass Kant's
philosophische Betrachtungen über die kosmische Natur zwei unsterb-
liche Werke hervorgebracht haben, die (Friedrich dem Grossen ge-
widmete) Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder
Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des
ganzen Weltgebäudes
(1755), und die Metaphysischen Anfangsgründe

1) Man darf auch nicht übersehen, dass Hume seine philosophischen Resultate
ohne die Errungenschaften des ihn umgebenden philosophischen Denkens, namentlich
derjenigen der französischen gleichzeitigen naturwissenschaftlichen Sensualisten kaum
hätte erzielen können. In mancher Beziehung scheint mir Hume eher den italienischen
humanistischen Skeptikern nach Art des Pomponazzi und des Vanini geistig ver-
wandt, als der echten Reihe der aus Naturbetrachtung Philosphierenden.
2) Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren, 1804, S. 25.

Weltanschauung und Religion.
lichkeit ungleich bedeutender als Locke und hat doch nicht (ich glaube
mich nicht zu irren) so viele konstruktive Ideen in die Welt gesetzt.
Und dennoch rechnen wir ihn zu den Naturforschern, denn innerhalb
des rein menschlichen Gebietes hat er so scharf und treu beobachtet
wie keiner seiner Vorgänger und ist nie abgewichen von der Methode,
die er in seiner ersten Schrift aufstellte: Beobachtung und Experiment.1)
Bei Kant schliesslich bilden umfassende Kenntnisse in allen Wissens-
zweigen und eingehende Beschäftigung mit der Naturwissenschaft
während eines ganzen langen Lebens einen Zug, der zu oft übersehen
wird. Kant’s schriftstellerische Thätigkeit im Dienste der Naturwissen-
schaft erstreckt sich von seinem 20. bis zu seinem 70. Jahre, von
seinen Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte,
die er im Jahre 1744 auszuarbeiten begann, bis zu seinem 1794 er-
schienenen Aufsatz Etwas über den Einfluss des Mondes auf die
Witterung.
Während dreissig Jahre waren seine besuchtesten Vor-
lesungen die, welche er im Winter über Anthropologie, im Sommer
über physikalische Geographie hielt; und der tägliche Genosse seiner
letzten Jahre, Wasianski, erzählt, dass, bis an sein Ende, Kant’s sehr
lebhafte Tischunterhaltung »grösstenteils aus der Meteorologie, Physik,
Chemie, Naturgeschichte und Politik entlehnt war.«2) Allerdings war
Kant nur ein Denker über Naturbeobachtungen, nicht (so viel ich
weiss) jemals selber ein Beobachter und Experimentierender, wie dies
Descartes gewesen war; doch ein wie vorzüglicher indirekter Beob-
achter er war, zeigen solche Schriften wie seine Beschreibung des
grossen Erdbebens vom 1. November 1755, seine Betrachtungen über
die Vulkane des Mondes, über die Theorie der Winde und manche
andere; und ich brauche wohl kaum daran zu erinnern, dass Kant’s
philosophische Betrachtungen über die kosmische Natur zwei unsterb-
liche Werke hervorgebracht haben, die (Friedrich dem Grossen ge-
widmete) Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder
Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des
ganzen Weltgebäudes
(1755), und die Metaphysischen Anfangsgründe

1) Man darf auch nicht übersehen, dass Hume seine philosophischen Resultate
ohne die Errungenschaften des ihn umgebenden philosophischen Denkens, namentlich
derjenigen der französischen gleichzeitigen naturwissenschaftlichen Sensualisten kaum
hätte erzielen können. In mancher Beziehung scheint mir Hume eher den italienischen
humanistischen Skeptikern nach Art des Pomponazzi und des Vanini geistig ver-
wandt, als der echten Reihe der aus Naturbetrachtung Philosphierenden.
2) Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren, 1804, S. 25.
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[903/0382] Weltanschauung und Religion. lichkeit ungleich bedeutender als Locke und hat doch nicht (ich glaube mich nicht zu irren) so viele konstruktive Ideen in die Welt gesetzt. Und dennoch rechnen wir ihn zu den Naturforschern, denn innerhalb des rein menschlichen Gebietes hat er so scharf und treu beobachtet wie keiner seiner Vorgänger und ist nie abgewichen von der Methode, die er in seiner ersten Schrift aufstellte: Beobachtung und Experiment. 1) Bei Kant schliesslich bilden umfassende Kenntnisse in allen Wissens- zweigen und eingehende Beschäftigung mit der Naturwissenschaft während eines ganzen langen Lebens einen Zug, der zu oft übersehen wird. Kant’s schriftstellerische Thätigkeit im Dienste der Naturwissen- schaft erstreckt sich von seinem 20. bis zu seinem 70. Jahre, von seinen Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, die er im Jahre 1744 auszuarbeiten begann, bis zu seinem 1794 er- schienenen Aufsatz Etwas über den Einfluss des Mondes auf die Witterung. Während dreissig Jahre waren seine besuchtesten Vor- lesungen die, welche er im Winter über Anthropologie, im Sommer über physikalische Geographie hielt; und der tägliche Genosse seiner letzten Jahre, Wasianski, erzählt, dass, bis an sein Ende, Kant’s sehr lebhafte Tischunterhaltung »grösstenteils aus der Meteorologie, Physik, Chemie, Naturgeschichte und Politik entlehnt war.« 2) Allerdings war Kant nur ein Denker über Naturbeobachtungen, nicht (so viel ich weiss) jemals selber ein Beobachter und Experimentierender, wie dies Descartes gewesen war; doch ein wie vorzüglicher indirekter Beob- achter er war, zeigen solche Schriften wie seine Beschreibung des grossen Erdbebens vom 1. November 1755, seine Betrachtungen über die Vulkane des Mondes, über die Theorie der Winde und manche andere; und ich brauche wohl kaum daran zu erinnern, dass Kant’s philosophische Betrachtungen über die kosmische Natur zwei unsterb- liche Werke hervorgebracht haben, die (Friedrich dem Grossen ge- widmete) Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes (1755), und die Metaphysischen Anfangsgründe 1) Man darf auch nicht übersehen, dass Hume seine philosophischen Resultate ohne die Errungenschaften des ihn umgebenden philosophischen Denkens, namentlich derjenigen der französischen gleichzeitigen naturwissenschaftlichen Sensualisten kaum hätte erzielen können. In mancher Beziehung scheint mir Hume eher den italienischen humanistischen Skeptikern nach Art des Pomponazzi und des Vanini geistig ver- wandt, als der echten Reihe der aus Naturbetrachtung Philosphierenden. 2) Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren, 1804, S. 25.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 903. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/382>, abgerufen am 29.04.2024.