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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
jeder gegebenen Thatsache mit rasender Eile näherte, um sie bald
darauf auf ewig aus den Augen zu verlieren? Was hätte Augustin
verhindert, der philosophisch so tief beanlagt war, wenn nicht seine
prinzipielle Verachtung der Natur? Was den Thomas von Aquin, wenn
nicht einzig der Wahn, dass er ohne irgend etwas zu beobachten alles
wisse? Dieses Sichwenden an die Natur -- diese neue Geistesorien-
tierung, eine Grossthat der germanischen Seele -- bedeutet nun, wie
gesagt, eine gewaltige, ja, eine geradezu unermessliche Bereicherung des
Menschengeistes: denn es versorgt ihn unerschöpflich mit neuem Stoff
(d. h. Vorstellungen) und neuen Verknüpfungen (d. h. Ideen). Nun-
mehr trinkt der Mensch unmittelbar aus der Quelle aller Erfindung,
aller Genialität. Das ist ein wesentlicher Zug unserer neuen Welt und
wohlgeeignet, uns Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen einzuflössen.
Früher glich der Mensch den Brunneneseln des südlichen Europa und
musste sich den ganzen Tag im Kreise seines armseligen Selbst herum-
drehen, damit er nur etwas Wasser für den Durst hinaufpumpe; nun-
mehr liegt er an den Brüsten der Mutter "Natur".

Etwas weiter, als bis wohin Herrn De Candolle's Bemerkung
hinzuweisen schien, sind wir schon gekommen; das Wissen von
unserem Nichtwissen führte uns in die unerschöpfliche Schatzkammer
der Natur ein und zeigte uns den verlorenen Weg zu dem ewig
strömenden Quell aller Erfindung. Jetzt müssen wir aber den dornigen
Pfad der reinen Philosophie wandeln und werden finden, dass dasselbe
Prinzip einer exakten Scheidung zwischen dem Bekannten und dem
Unbekannten uns auch dort grundlegende Dienste leistet.

Wenn Locke seinen Verstand beobachtend analysiert, so entäussert
er sich gewissermassen seiner selbst, um sich als ein Stück Natur be-
trachten zu können; offenbar liegt aber hier ein unüberwindliches
Hindernis im Wege. Womit soll er sich denn betrachten? Schliesslich
ist es Natur, die Natur betrachtet. Die Richtigkeit und Tragweite
dieser Erwägung begreift oder ahnt wenigstens ein Jeder sofort. Frucht-
bar wird sie aber erst, wenn man sie durch eine zweite Erwägung
ergänzt, die etwas mehr Überlegung erfordert. Hierzu ein zweites
Beispiel. Wenn jener andere grundlegende Denker unter den ersten
naturforschenden Philosophen, Descartes, im Gegensatz zu Locke, nicht
sich selbst, sondern die umgebende Natur betrachtet -- von dem
kreisenden Gestirn bis zu dem schlagenden Herzen des frisch zerlegten
Tieres -- und überall das Gesetz des Mechanismus entdeckt, so dass
er lehrt, auch den geistigen Erscheinungen müssen Bewegungen zu

Die Entstehung einer neuen Welt.
jeder gegebenen Thatsache mit rasender Eile näherte, um sie bald
darauf auf ewig aus den Augen zu verlieren? Was hätte Augustin
verhindert, der philosophisch so tief beanlagt war, wenn nicht seine
prinzipielle Verachtung der Natur? Was den Thomas von Aquin, wenn
nicht einzig der Wahn, dass er ohne irgend etwas zu beobachten alles
wisse? Dieses Sichwenden an die Natur — diese neue Geistesorien-
tierung, eine Grossthat der germanischen Seele — bedeutet nun, wie
gesagt, eine gewaltige, ja, eine geradezu unermessliche Bereicherung des
Menschengeistes: denn es versorgt ihn unerschöpflich mit neuem Stoff
(d. h. Vorstellungen) und neuen Verknüpfungen (d. h. Ideen). Nun-
mehr trinkt der Mensch unmittelbar aus der Quelle aller Erfindung,
aller Genialität. Das ist ein wesentlicher Zug unserer neuen Welt und
wohlgeeignet, uns Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen einzuflössen.
Früher glich der Mensch den Brunneneseln des südlichen Europa und
musste sich den ganzen Tag im Kreise seines armseligen Selbst herum-
drehen, damit er nur etwas Wasser für den Durst hinaufpumpe; nun-
mehr liegt er an den Brüsten der Mutter »Natur«.

Etwas weiter, als bis wohin Herrn De Candolle’s Bemerkung
hinzuweisen schien, sind wir schon gekommen; das Wissen von
unserem Nichtwissen führte uns in die unerschöpfliche Schatzkammer
der Natur ein und zeigte uns den verlorenen Weg zu dem ewig
strömenden Quell aller Erfindung. Jetzt müssen wir aber den dornigen
Pfad der reinen Philosophie wandeln und werden finden, dass dasselbe
Prinzip einer exakten Scheidung zwischen dem Bekannten und dem
Unbekannten uns auch dort grundlegende Dienste leistet.

Wenn Locke seinen Verstand beobachtend analysiert, so entäussert
er sich gewissermassen seiner selbst, um sich als ein Stück Natur be-
trachten zu können; offenbar liegt aber hier ein unüberwindliches
Hindernis im Wege. Womit soll er sich denn betrachten? Schliesslich
ist es Natur, die Natur betrachtet. Die Richtigkeit und Tragweite
dieser Erwägung begreift oder ahnt wenigstens ein Jeder sofort. Frucht-
bar wird sie aber erst, wenn man sie durch eine zweite Erwägung
ergänzt, die etwas mehr Überlegung erfordert. Hierzu ein zweites
Beispiel. Wenn jener andere grundlegende Denker unter den ersten
naturforschenden Philosophen, Descartes, im Gegensatz zu Locke, nicht
sich selbst, sondern die umgebende Natur betrachtet — von dem
kreisenden Gestirn bis zu dem schlagenden Herzen des frisch zerlegten
Tieres — und überall das Gesetz des Mechanismus entdeckt, so dass
er lehrt, auch den geistigen Erscheinungen müssen Bewegungen zu

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[908/0387] Die Entstehung einer neuen Welt. jeder gegebenen Thatsache mit rasender Eile näherte, um sie bald darauf auf ewig aus den Augen zu verlieren? Was hätte Augustin verhindert, der philosophisch so tief beanlagt war, wenn nicht seine prinzipielle Verachtung der Natur? Was den Thomas von Aquin, wenn nicht einzig der Wahn, dass er ohne irgend etwas zu beobachten alles wisse? Dieses Sichwenden an die Natur — diese neue Geistesorien- tierung, eine Grossthat der germanischen Seele — bedeutet nun, wie gesagt, eine gewaltige, ja, eine geradezu unermessliche Bereicherung des Menschengeistes: denn es versorgt ihn unerschöpflich mit neuem Stoff (d. h. Vorstellungen) und neuen Verknüpfungen (d. h. Ideen). Nun- mehr trinkt der Mensch unmittelbar aus der Quelle aller Erfindung, aller Genialität. Das ist ein wesentlicher Zug unserer neuen Welt und wohlgeeignet, uns Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen einzuflössen. Früher glich der Mensch den Brunneneseln des südlichen Europa und musste sich den ganzen Tag im Kreise seines armseligen Selbst herum- drehen, damit er nur etwas Wasser für den Durst hinaufpumpe; nun- mehr liegt er an den Brüsten der Mutter »Natur«. Etwas weiter, als bis wohin Herrn De Candolle’s Bemerkung hinzuweisen schien, sind wir schon gekommen; das Wissen von unserem Nichtwissen führte uns in die unerschöpfliche Schatzkammer der Natur ein und zeigte uns den verlorenen Weg zu dem ewig strömenden Quell aller Erfindung. Jetzt müssen wir aber den dornigen Pfad der reinen Philosophie wandeln und werden finden, dass dasselbe Prinzip einer exakten Scheidung zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten uns auch dort grundlegende Dienste leistet. Wenn Locke seinen Verstand beobachtend analysiert, so entäussert er sich gewissermassen seiner selbst, um sich als ein Stück Natur be- trachten zu können; offenbar liegt aber hier ein unüberwindliches Hindernis im Wege. Womit soll er sich denn betrachten? Schliesslich ist es Natur, die Natur betrachtet. Die Richtigkeit und Tragweite dieser Erwägung begreift oder ahnt wenigstens ein Jeder sofort. Frucht- bar wird sie aber erst, wenn man sie durch eine zweite Erwägung ergänzt, die etwas mehr Überlegung erfordert. Hierzu ein zweites Beispiel. Wenn jener andere grundlegende Denker unter den ersten naturforschenden Philosophen, Descartes, im Gegensatz zu Locke, nicht sich selbst, sondern die umgebende Natur betrachtet — von dem kreisenden Gestirn bis zu dem schlagenden Herzen des frisch zerlegten Tieres — und überall das Gesetz des Mechanismus entdeckt, so dass er lehrt, auch den geistigen Erscheinungen müssen Bewegungen zu

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 908. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/387>, abgerufen am 29.04.2024.