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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
verstandes gegen einen Kant erheben: er hatte selber doch mächtig
zur Erweiterung des Begriffs Natur beigetragen; der ganze erste Teil
seiner Ideen zur Geschichte der Menschheit ist vielleicht das Einfluss-
reichste, was zur Verbreitung dieser antitheologischen Auffassung jemals
geschah; das ganze Bestreben des edlen und genialen Mannes geht
hier darauf, den Menschen mitten hinein in die Natur zu stellen, als
einen organischen Bestandteil derselben, als eines ihrer noch im vollen
Werden begriffenen Geschöpfe; und wenn er auch in seinem Vorwort
einen kleinen Seitenhieb auf die "metaphysischen Spekulationen" aus-
führt, die "abgetrennt von Erfahrungen und Analogien der Natur
eine Lustfahrt sind, die selten zum Ziele führet", so ahnt er nicht,
wie sehr er selber unter dem Einfluss der neuen, werdenden Welt-
anschauung steht und wie viel andererseits seine eigenen Anschauungen
an Tiefe und Treffsicherheit gewonnen hätten (vielleicht allerdings auf
Kosten ihrer Popularität), wenn er die Metaphysik, wie sie aus treuer Be-
obachtung der Natur erschlossen worden war, eingehender studiert hätte.
Dieser verehrungswürdige Mann möge als der glänzendste Vertreter
einer ganzen Richtung stehen. Einer anderen Richtung begegnen wir
in Männern von der Art des Buffon. Von diesem Naturschilderer
schreibt Condorcet: il etait frappe d'une sorte de respect religieux
pour les grands phenomenes de l'univers.
Also die Natur selber ist
es, die Buffon religiöse Verehrung einflösst. Die encyklopädistischen
Naturforscher seiner Art (die in unserem Jahrhundert in Humboldt eine
weithin wirkende Fortsetzung erlebten) thaten ungeheuer viel, wenn
nicht gerade zur Erweiterung, so doch zur Bereicherung der Vorstellung
"Natur", und dass sie religiöse Verehrung für sie empfanden und mitzu-
teilen verstanden, war philosophisch von Bedeutung. Diese Bewegung
auf eine Erweiterung des Begriffes "Natur", liesse sich in ähnlicher Weise
auf vielen Gebieten verfolgen. Selbst ein Leibniz, der doch theologische
Dogmatik noch zu retten sucht, giebt die Natur im weitesten Umfang
frei, denn durch seine prästabilierte Harmonie wird freilich alles Supra-
natur, doch auch alles ohne Ausnahme Natur. Das Wichtigste aber und
Entscheidendste war die grosse Erweiterung, welche die Natur durch
die restlose Einbeziehung des inneren Ich erfuhr. Warum sollte gerade
dieses ausgeschlossen bleiben? Wie wollte man das rechtfertigen?
Wie hätte man fortfahren sollen, mit Descartes und Locke in der oben
geschilderten Weise die sichersten Thatsachen der Erfahrung unter
dem Vorwand zu umgehen, sie seien nicht mechanisch, sie liessen
sich nicht begreifen, sie seien folglich von jeder Betrachtung aus-

Die Entstehung einer neuen Welt.
verstandes gegen einen Kant erheben: er hatte selber doch mächtig
zur Erweiterung des Begriffs Natur beigetragen; der ganze erste Teil
seiner Ideen zur Geschichte der Menschheit ist vielleicht das Einfluss-
reichste, was zur Verbreitung dieser antitheologischen Auffassung jemals
geschah; das ganze Bestreben des edlen und genialen Mannes geht
hier darauf, den Menschen mitten hinein in die Natur zu stellen, als
einen organischen Bestandteil derselben, als eines ihrer noch im vollen
Werden begriffenen Geschöpfe; und wenn er auch in seinem Vorwort
einen kleinen Seitenhieb auf die »metaphysischen Spekulationen« aus-
führt, die »abgetrennt von Erfahrungen und Analogien der Natur
eine Lustfahrt sind, die selten zum Ziele führet«, so ahnt er nicht,
wie sehr er selber unter dem Einfluss der neuen, werdenden Welt-
anschauung steht und wie viel andererseits seine eigenen Anschauungen
an Tiefe und Treffsicherheit gewonnen hätten (vielleicht allerdings auf
Kosten ihrer Popularität), wenn er die Metaphysik, wie sie aus treuer Be-
obachtung der Natur erschlossen worden war, eingehender studiert hätte.
Dieser verehrungswürdige Mann möge als der glänzendste Vertreter
einer ganzen Richtung stehen. Einer anderen Richtung begegnen wir
in Männern von der Art des Buffon. Von diesem Naturschilderer
schreibt Condorcet: il était frappé d’une sorte de respect religieux
pour les grands phénomènes de l’univers.
Also die Natur selber ist
es, die Buffon religiöse Verehrung einflösst. Die encyklopädistischen
Naturforscher seiner Art (die in unserem Jahrhundert in Humboldt eine
weithin wirkende Fortsetzung erlebten) thaten ungeheuer viel, wenn
nicht gerade zur Erweiterung, so doch zur Bereicherung der Vorstellung
»Natur«, und dass sie religiöse Verehrung für sie empfanden und mitzu-
teilen verstanden, war philosophisch von Bedeutung. Diese Bewegung
auf eine Erweiterung des Begriffes »Natur«, liesse sich in ähnlicher Weise
auf vielen Gebieten verfolgen. Selbst ein Leibniz, der doch theologische
Dogmatik noch zu retten sucht, giebt die Natur im weitesten Umfang
frei, denn durch seine prästabilierte Harmonie wird freilich alles Supra-
natur, doch auch alles ohne Ausnahme Natur. Das Wichtigste aber und
Entscheidendste war die grosse Erweiterung, welche die Natur durch
die restlose Einbeziehung des inneren Ich erfuhr. Warum sollte gerade
dieses ausgeschlossen bleiben? Wie wollte man das rechtfertigen?
Wie hätte man fortfahren sollen, mit Descartes und Locke in der oben
geschilderten Weise die sichersten Thatsachen der Erfahrung unter
dem Vorwand zu umgehen, sie seien nicht mechanisch, sie liessen
sich nicht begreifen, sie seien folglich von jeder Betrachtung aus-

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[926/0405] Die Entstehung einer neuen Welt. verstandes gegen einen Kant erheben: er hatte selber doch mächtig zur Erweiterung des Begriffs Natur beigetragen; der ganze erste Teil seiner Ideen zur Geschichte der Menschheit ist vielleicht das Einfluss- reichste, was zur Verbreitung dieser antitheologischen Auffassung jemals geschah; das ganze Bestreben des edlen und genialen Mannes geht hier darauf, den Menschen mitten hinein in die Natur zu stellen, als einen organischen Bestandteil derselben, als eines ihrer noch im vollen Werden begriffenen Geschöpfe; und wenn er auch in seinem Vorwort einen kleinen Seitenhieb auf die »metaphysischen Spekulationen« aus- führt, die »abgetrennt von Erfahrungen und Analogien der Natur eine Lustfahrt sind, die selten zum Ziele führet«, so ahnt er nicht, wie sehr er selber unter dem Einfluss der neuen, werdenden Welt- anschauung steht und wie viel andererseits seine eigenen Anschauungen an Tiefe und Treffsicherheit gewonnen hätten (vielleicht allerdings auf Kosten ihrer Popularität), wenn er die Metaphysik, wie sie aus treuer Be- obachtung der Natur erschlossen worden war, eingehender studiert hätte. Dieser verehrungswürdige Mann möge als der glänzendste Vertreter einer ganzen Richtung stehen. Einer anderen Richtung begegnen wir in Männern von der Art des Buffon. Von diesem Naturschilderer schreibt Condorcet: il était frappé d’une sorte de respect religieux pour les grands phénomènes de l’univers. Also die Natur selber ist es, die Buffon religiöse Verehrung einflösst. Die encyklopädistischen Naturforscher seiner Art (die in unserem Jahrhundert in Humboldt eine weithin wirkende Fortsetzung erlebten) thaten ungeheuer viel, wenn nicht gerade zur Erweiterung, so doch zur Bereicherung der Vorstellung »Natur«, und dass sie religiöse Verehrung für sie empfanden und mitzu- teilen verstanden, war philosophisch von Bedeutung. Diese Bewegung auf eine Erweiterung des Begriffes »Natur«, liesse sich in ähnlicher Weise auf vielen Gebieten verfolgen. Selbst ein Leibniz, der doch theologische Dogmatik noch zu retten sucht, giebt die Natur im weitesten Umfang frei, denn durch seine prästabilierte Harmonie wird freilich alles Supra- natur, doch auch alles ohne Ausnahme Natur. Das Wichtigste aber und Entscheidendste war die grosse Erweiterung, welche die Natur durch die restlose Einbeziehung des inneren Ich erfuhr. Warum sollte gerade dieses ausgeschlossen bleiben? Wie wollte man das rechtfertigen? Wie hätte man fortfahren sollen, mit Descartes und Locke in der oben geschilderten Weise die sichersten Thatsachen der Erfahrung unter dem Vorwand zu umgehen, sie seien nicht mechanisch, sie liessen sich nicht begreifen, sie seien folglich von jeder Betrachtung aus-

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 926. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/405>, abgerufen am 27.04.2024.