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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
zuschliessen? Wogegen naturwissenschaftliche Methode und Ehrlich-
keit zu dem einfachen Schlusse verpflichtete: es ist nicht alles in
der Natur mechanisch, es lässt sich nicht jede Erfahrung in eine
logische Begriffskette hineinschmieden. Wie sollte man sich mit
Herder's halber Massregel einverstanden erklären können: den Menschen
erst vollkommen mit der Natur zu identifizieren und ihn zuletzt doch
wieder heraus zu eskamotieren -- nicht freilich den ganzen Menschen,
aber seinen "Geist" -- dank der Annahme aussernatürlicher Kräfte
und übernatürlichen Waltens?1) Auch hier handelte es sich zunächst
um eine einfache Orientierung des Geistes; allerdings entschied diese
Orientierung über die ganze Weltanschauung. Denn so lange wir den
Menschen nicht rückhaltlos zur Natur rechneten, so lange standen beide
sich fremd gegenüber, und, stehen sich in Wirklichkeit Mensch und
Natur fremd gegenüber, dann ist unsere ganze germanische Richtung
und Methode eine Verirrung. Sie ist aber keine Verirrung, und so
hatte denn die resolute Einbeziehung des Ich in die Natur sofort eine
grosse metaphysische Vertiefung zur Folge.

In dieser Beziehung ist den Mystikern ein bedeutendes Verdienst
zuzuschreiben. Wenn Franz von Assisi die Sonne als messor lo frate
sole
anruft, so sagt er: die ganze Natur ist mein Blutsverwandter,
ihrem Schosse bin ich entwachsen, und erblicken einst meine Augen
jenen hellglänzenden "Bruder" nicht mehr, dann ist es die "Schwester",
der Tod, die mich in den Schlaf wiegt. Was Wunder, wenn dieser
Mann das Beste, was er wusste, die Kunde von dem lieben Heiland,
den Vögeln im Walde predigte? Ein halbes Jahrtausend brauchten die
Herren Philosophen, um auf demselben Standpunkt anzukommen, wo
jener wunderbare Mann in vollster Naivetät gestanden hatte. Jedoch,
übertreiben wir nichts: die Mystik hatte viele tiefe metaphysische
Fragen in Bezug auf das innerste Leben des Ich aufgeworfen, auch
hatte sie in dankenswertester Weise nicht allein naturwissenschaftliches
Denken gefördert, sondern ebenfalls die so nötige Erweiterung des
Begriffes "Natur";2) jedoch, die eigentliche Vertiefung, wenigstens die
philosophische Vertiefung, hatte sie nicht durchgeführt, denn dazu war
ein wissenschaftlicher Geist nötig, der sich schwer mit ihr vereinbaren
lässt. Im Allgemeinen vertieft mystische Anlage den Charakter, doch
nicht das Denken, und selbst ein Paracelsus wird durch sein "inneres

1) Siehe Kant's drei meisterhafte Recensionen von Herder's Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit.
2) Siehe S. 883, 887.

Weltanschauung und Religion.
zuschliessen? Wogegen naturwissenschaftliche Methode und Ehrlich-
keit zu dem einfachen Schlusse verpflichtete: es ist nicht alles in
der Natur mechanisch, es lässt sich nicht jede Erfahrung in eine
logische Begriffskette hineinschmieden. Wie sollte man sich mit
Herder’s halber Massregel einverstanden erklären können: den Menschen
erst vollkommen mit der Natur zu identifizieren und ihn zuletzt doch
wieder heraus zu eskamotieren — nicht freilich den ganzen Menschen,
aber seinen »Geist« — dank der Annahme aussernatürlicher Kräfte
und übernatürlichen Waltens?1) Auch hier handelte es sich zunächst
um eine einfache Orientierung des Geistes; allerdings entschied diese
Orientierung über die ganze Weltanschauung. Denn so lange wir den
Menschen nicht rückhaltlos zur Natur rechneten, so lange standen beide
sich fremd gegenüber, und, stehen sich in Wirklichkeit Mensch und
Natur fremd gegenüber, dann ist unsere ganze germanische Richtung
und Methode eine Verirrung. Sie ist aber keine Verirrung, und so
hatte denn die resolute Einbeziehung des Ich in die Natur sofort eine
grosse metaphysische Vertiefung zur Folge.

In dieser Beziehung ist den Mystikern ein bedeutendes Verdienst
zuzuschreiben. Wenn Franz von Assisi die Sonne als messor lo frate
sole
anruft, so sagt er: die ganze Natur ist mein Blutsverwandter,
ihrem Schosse bin ich entwachsen, und erblicken einst meine Augen
jenen hellglänzenden »Bruder« nicht mehr, dann ist es die »Schwester«,
der Tod, die mich in den Schlaf wiegt. Was Wunder, wenn dieser
Mann das Beste, was er wusste, die Kunde von dem lieben Heiland,
den Vögeln im Walde predigte? Ein halbes Jahrtausend brauchten die
Herren Philosophen, um auf demselben Standpunkt anzukommen, wo
jener wunderbare Mann in vollster Naivetät gestanden hatte. Jedoch,
übertreiben wir nichts: die Mystik hatte viele tiefe metaphysische
Fragen in Bezug auf das innerste Leben des Ich aufgeworfen, auch
hatte sie in dankenswertester Weise nicht allein naturwissenschaftliches
Denken gefördert, sondern ebenfalls die so nötige Erweiterung des
Begriffes »Natur«;2) jedoch, die eigentliche Vertiefung, wenigstens die
philosophische Vertiefung, hatte sie nicht durchgeführt, denn dazu war
ein wissenschaftlicher Geist nötig, der sich schwer mit ihr vereinbaren
lässt. Im Allgemeinen vertieft mystische Anlage den Charakter, doch
nicht das Denken, und selbst ein Paracelsus wird durch sein »inneres

1) Siehe Kant’s drei meisterhafte Recensionen von Herder’s Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit.
2) Siehe S. 883, 887.
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[927/0406] Weltanschauung und Religion. zuschliessen? Wogegen naturwissenschaftliche Methode und Ehrlich- keit zu dem einfachen Schlusse verpflichtete: es ist nicht alles in der Natur mechanisch, es lässt sich nicht jede Erfahrung in eine logische Begriffskette hineinschmieden. Wie sollte man sich mit Herder’s halber Massregel einverstanden erklären können: den Menschen erst vollkommen mit der Natur zu identifizieren und ihn zuletzt doch wieder heraus zu eskamotieren — nicht freilich den ganzen Menschen, aber seinen »Geist« — dank der Annahme aussernatürlicher Kräfte und übernatürlichen Waltens? 1) Auch hier handelte es sich zunächst um eine einfache Orientierung des Geistes; allerdings entschied diese Orientierung über die ganze Weltanschauung. Denn so lange wir den Menschen nicht rückhaltlos zur Natur rechneten, so lange standen beide sich fremd gegenüber, und, stehen sich in Wirklichkeit Mensch und Natur fremd gegenüber, dann ist unsere ganze germanische Richtung und Methode eine Verirrung. Sie ist aber keine Verirrung, und so hatte denn die resolute Einbeziehung des Ich in die Natur sofort eine grosse metaphysische Vertiefung zur Folge. In dieser Beziehung ist den Mystikern ein bedeutendes Verdienst zuzuschreiben. Wenn Franz von Assisi die Sonne als messor lo frate sole anruft, so sagt er: die ganze Natur ist mein Blutsverwandter, ihrem Schosse bin ich entwachsen, und erblicken einst meine Augen jenen hellglänzenden »Bruder« nicht mehr, dann ist es die »Schwester«, der Tod, die mich in den Schlaf wiegt. Was Wunder, wenn dieser Mann das Beste, was er wusste, die Kunde von dem lieben Heiland, den Vögeln im Walde predigte? Ein halbes Jahrtausend brauchten die Herren Philosophen, um auf demselben Standpunkt anzukommen, wo jener wunderbare Mann in vollster Naivetät gestanden hatte. Jedoch, übertreiben wir nichts: die Mystik hatte viele tiefe metaphysische Fragen in Bezug auf das innerste Leben des Ich aufgeworfen, auch hatte sie in dankenswertester Weise nicht allein naturwissenschaftliches Denken gefördert, sondern ebenfalls die so nötige Erweiterung des Begriffes »Natur«; 2) jedoch, die eigentliche Vertiefung, wenigstens die philosophische Vertiefung, hatte sie nicht durchgeführt, denn dazu war ein wissenschaftlicher Geist nötig, der sich schwer mit ihr vereinbaren lässt. Im Allgemeinen vertieft mystische Anlage den Charakter, doch nicht das Denken, und selbst ein Paracelsus wird durch sein »inneres 1) Siehe Kant’s drei meisterhafte Recensionen von Herder’s Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2) Siehe S. 883, 887.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 927. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/406>, abgerufen am 27.04.2024.