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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
wenn es mir gelungen ist, die Genesis unserer neuen Weltanschauung
in ihren allgemeinsten Linien anschaulich gemacht zu haben; hierdurch
ist der Boden geebnet für eine zielbewusste, sichere Beurteilung der
Philosophie des 19. Jahrhunderts. Kant selber dagegen ist erst gegen
Schluss unseres Jahrhunderts dem Verständnis wieder näher gerückt,
und zwar charakteristischer Weise vornehmlich durch die Anregung
hervorragender Naturforscher; und die Auffassung der Religion, die
in ihm gewiss noch nicht einen vollendeten, vielmehr einen in mancher
Beziehung sehr anfechtbaren, doch den ersten klaren Ausdruck gefunden
hat, überstieg so sehr die Fassungsgabe seiner und unserer Zeitgenossen,
eilte so schnell der Entfaltung germanischer Geistesanlagen voraus, dass
ihre Würdigung eher in den Abschnitt über die Zukunft, als in den
über die Vergangenheit gehört. Nur wenige Worte also zur allgemeinen
Orientierung.

Wissenschaft ist die von den Germanen erfundene und durch-
geführte Methode, die Welt der Erscheinung mechanisch anzuschauen;
Religion ist ihr Verhalten gegenüber demjenigen Teil der Erfahrung,
der nicht in die Erscheinung tritt und darum einer mechanischen
Deutung unfähig ist. Was diese zwei Begriffe -- Wissenschaft und
Religion -- bei anderen Menschen bedeuten mögen, ist an diesem
Ort ohne Belang. Zusammen machen sie unsere Weltanschauung
aus. Bei dieser Weltanschauung, welche das Suchen nach letzten

wäre sodann die Preisschrift des Prof. Kurd Lasswitz: Die Lehre Kant's allgemein
verständlich dargestellt
(Berlin, 1883), als Propädeutikum zum Studium der Original-
schriften sehr anzuraten. Das allerunzweckmässigste, was der Laie thun kann, ist,
sich unvorbereitet auf die Kritik der reinen Vernunft zu stürzen. Dieses Werk bleibt
für die Meisten am besten ganz aus, da die Prolegomena zu einer jeden künftigen Meta-
physik, die als Wissenschaft wird auftreten können,
klarer, kürzer und hinreichend sind.
Doch sollte Jeder mit der Naturgeschichte des Himmels das Studium beginnen, dann in
der Schrift von den lebendigen Kräften, in der von den negativen Grössen, und anderen
aus dieser Reihe so viel lesen wie die Kenntnis der Mathematik und Mechanik es
gestattet; dann etwa zu den Träumen eines Geistersehers übergehen, wobei man mit
Vorteil lange verweilen wird. Jetzt erst werden die Prolegomena mit Nutzen gründlich
studiert werden können, woran sich unmittelbar die Preisschrift Über die Fortschritte
der Metaphysik
anschliessen muss. Aus dieser metaphysischen Schule begebe man
sich dann zur Kritik der praktischen Vernunft und zur Kritik der Urteilskraft: jetzt
erst ist man für die Kritik der reinen Vernunft reif. -- Ist Einer nun erst so weit,
so empfehle ich ihm auf das Allerdringendste Prof. Alexander Wernicke's Kant
und kein Ende?,
eine bei Mayer in Braunschweig im Jahre 1894 erschienene kleine
Schrift, welche wohl das Beste enthält, was je zu einem tieferen Verständnis von
Kant's Denken gesagt wurde und darum unvergänglichen, klassischen Wert besitzt.

Die Entstehung einer neuen Welt.
wenn es mir gelungen ist, die Genesis unserer neuen Weltanschauung
in ihren allgemeinsten Linien anschaulich gemacht zu haben; hierdurch
ist der Boden geebnet für eine zielbewusste, sichere Beurteilung der
Philosophie des 19. Jahrhunderts. Kant selber dagegen ist erst gegen
Schluss unseres Jahrhunderts dem Verständnis wieder näher gerückt,
und zwar charakteristischer Weise vornehmlich durch die Anregung
hervorragender Naturforscher; und die Auffassung der Religion, die
in ihm gewiss noch nicht einen vollendeten, vielmehr einen in mancher
Beziehung sehr anfechtbaren, doch den ersten klaren Ausdruck gefunden
hat, überstieg so sehr die Fassungsgabe seiner und unserer Zeitgenossen,
eilte so schnell der Entfaltung germanischer Geistesanlagen voraus, dass
ihre Würdigung eher in den Abschnitt über die Zukunft, als in den
über die Vergangenheit gehört. Nur wenige Worte also zur allgemeinen
Orientierung.

Wissenschaft ist die von den Germanen erfundene und durch-
geführte Methode, die Welt der Erscheinung mechanisch anzuschauen;
Religion ist ihr Verhalten gegenüber demjenigen Teil der Erfahrung,
der nicht in die Erscheinung tritt und darum einer mechanischen
Deutung unfähig ist. Was diese zwei Begriffe — Wissenschaft und
Religion — bei anderen Menschen bedeuten mögen, ist an diesem
Ort ohne Belang. Zusammen machen sie unsere Weltanschauung
aus. Bei dieser Weltanschauung, welche das Suchen nach letzten

wäre sodann die Preisschrift des Prof. Kurd Lasswitz: Die Lehre Kant’s allgemein
verständlich dargestellt
(Berlin, 1883), als Propädeutikum zum Studium der Original-
schriften sehr anzuraten. Das allerunzweckmässigste, was der Laie thun kann, ist,
sich unvorbereitet auf die Kritik der reinen Vernunft zu stürzen. Dieses Werk bleibt
für die Meisten am besten ganz aus, da die Prolegomena zu einer jeden künftigen Meta-
physik, die als Wissenschaft wird auftreten können,
klarer, kürzer und hinreichend sind.
Doch sollte Jeder mit der Naturgeschichte des Himmels das Studium beginnen, dann in
der Schrift von den lebendigen Kräften, in der von den negativen Grössen, und anderen
aus dieser Reihe so viel lesen wie die Kenntnis der Mathematik und Mechanik es
gestattet; dann etwa zu den Träumen eines Geistersehers übergehen, wobei man mit
Vorteil lange verweilen wird. Jetzt erst werden die Prolegomena mit Nutzen gründlich
studiert werden können, woran sich unmittelbar die Preisschrift Über die Fortschritte
der Metaphysik
anschliessen muss. Aus dieser metaphysischen Schule begebe man
sich dann zur Kritik der praktischen Vernunft und zur Kritik der Urteilskraft: jetzt
erst ist man für die Kritik der reinen Vernunft reif. — Ist Einer nun erst so weit,
so empfehle ich ihm auf das Allerdringendste Prof. Alexander Wernicke’s Kant
und kein Ende?,
eine bei Mayer in Braunschweig im Jahre 1894 erschienene kleine
Schrift, welche wohl das Beste enthält, was je zu einem tieferen Verständnis von
Kant’s Denken gesagt wurde und darum unvergänglichen, klassischen Wert besitzt.
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[938/0417] Die Entstehung einer neuen Welt. wenn es mir gelungen ist, die Genesis unserer neuen Weltanschauung in ihren allgemeinsten Linien anschaulich gemacht zu haben; hierdurch ist der Boden geebnet für eine zielbewusste, sichere Beurteilung der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Kant selber dagegen ist erst gegen Schluss unseres Jahrhunderts dem Verständnis wieder näher gerückt, und zwar charakteristischer Weise vornehmlich durch die Anregung hervorragender Naturforscher; und die Auffassung der Religion, die in ihm gewiss noch nicht einen vollendeten, vielmehr einen in mancher Beziehung sehr anfechtbaren, doch den ersten klaren Ausdruck gefunden hat, überstieg so sehr die Fassungsgabe seiner und unserer Zeitgenossen, eilte so schnell der Entfaltung germanischer Geistesanlagen voraus, dass ihre Würdigung eher in den Abschnitt über die Zukunft, als in den über die Vergangenheit gehört. Nur wenige Worte also zur allgemeinen Orientierung. Wissenschaft ist die von den Germanen erfundene und durch- geführte Methode, die Welt der Erscheinung mechanisch anzuschauen; Religion ist ihr Verhalten gegenüber demjenigen Teil der Erfahrung, der nicht in die Erscheinung tritt und darum einer mechanischen Deutung unfähig ist. Was diese zwei Begriffe — Wissenschaft und Religion — bei anderen Menschen bedeuten mögen, ist an diesem Ort ohne Belang. Zusammen machen sie unsere Weltanschauung aus. Bei dieser Weltanschauung, welche das Suchen nach letzten 3) 3) wäre sodann die Preisschrift des Prof. Kurd Lasswitz: Die Lehre Kant’s allgemein verständlich dargestellt (Berlin, 1883), als Propädeutikum zum Studium der Original- schriften sehr anzuraten. Das allerunzweckmässigste, was der Laie thun kann, ist, sich unvorbereitet auf die Kritik der reinen Vernunft zu stürzen. Dieses Werk bleibt für die Meisten am besten ganz aus, da die Prolegomena zu einer jeden künftigen Meta- physik, die als Wissenschaft wird auftreten können, klarer, kürzer und hinreichend sind. Doch sollte Jeder mit der Naturgeschichte des Himmels das Studium beginnen, dann in der Schrift von den lebendigen Kräften, in der von den negativen Grössen, und anderen aus dieser Reihe so viel lesen wie die Kenntnis der Mathematik und Mechanik es gestattet; dann etwa zu den Träumen eines Geistersehers übergehen, wobei man mit Vorteil lange verweilen wird. Jetzt erst werden die Prolegomena mit Nutzen gründlich studiert werden können, woran sich unmittelbar die Preisschrift Über die Fortschritte der Metaphysik anschliessen muss. Aus dieser metaphysischen Schule begebe man sich dann zur Kritik der praktischen Vernunft und zur Kritik der Urteilskraft: jetzt erst ist man für die Kritik der reinen Vernunft reif. — Ist Einer nun erst so weit, so empfehle ich ihm auf das Allerdringendste Prof. Alexander Wernicke’s Kant und kein Ende?, eine bei Mayer in Braunschweig im Jahre 1894 erschienene kleine Schrift, welche wohl das Beste enthält, was je zu einem tieferen Verständnis von Kant’s Denken gesagt wurde und darum unvergänglichen, klassischen Wert besitzt.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 938. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/417>, abgerufen am 27.04.2024.