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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
Ursachen als sinnlos perhorresciert, muss die Grundlage zur Handlungs-
weise des Menschen gegen sich und Andere in etwas Anderem gefunden
werden als in Gehorsam gegen einen regierenden Weltmonarchen und
in der Hoffnung auf eine zukünftige Belohnung. Wie ich schon früher
angedeutet (S. 776) und nunmehr erwiesen habe, kann neben einer
streng mechanischen Naturlehre einzig eine rein ideale Religion bestehen,
eine Religion heisst das, welche sich ihrerseits streng auf die ideale
Welt des Unmechanischen beschränkt. Wie schrankenlos diese Welt
auch sei -- deren Flügelschlag aus der Ohnmacht der Erscheinung
befreit und alle Sterne überfliegt, deren Kraft dem qualvollsten Tode
lächelnd zu trotzen gestattet, die in einen Kuss Ewigkeit hineinzaubert,
und in einem Gedankenblitz Erlösung schenkt -- ist sie dennoch auf ein
bestimmtes Gebiet angewiesen: auf das eigene Innere; dessen Grenzen
darf sie nie überschreiten. Hier also, im eigenen Innern, und nirgends
anders, muss die Grundlage der Religion gefunden werden. "Religion
zu haben ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst", sagt Kant.1)
Aus Erwägungen, die ich hier nicht wiederholen kann, hält Kant,
wie Jeder weiss, den Gedanken an eine Gottheit hoch, doch legt er
grosses Gewicht darauf, dass der Mensch seine Pflichten nicht als
Pflichten gegen Gott, was ein zu schwankes Rohr wäre, sondern als
Pflichten gegen sich selbst aufzufassen habe. Was eben Wissenschaft
und Religion bei uns zu einer einheitlichen Weltanschauung verbindet,
ist das Prinzip, dass stets die Erfahrung gebietet; nun ist Gott nicht
eine Erfahrung, sondern ein Gedanke, und zwar ein undefinierbarer,
nie fassbar zu machender Gedanke, wogegen der Mensch sich selber
Erfahrung ist. Hier ist also die Quelle zu suchen, und darum ist die
Autonomie des Willens (d. h. seine freie Selbständigkeit) das oberste
Prinzip aller Sittlichkeit.2) Sittlich ist eine Handlung nur, insofern sie
aus dem innersten eigenen Willen hervorquillt und einem selbstge-
gebenen Gesetz gehorcht; wogegen die Hoffnung auf Lohn keine
Sittlichkeit erzeugen kann, noch auch jemals von ärgstem Laster und
Verbrechen abgehalten hat, denn jede äusserliche Religion hat Ver-
mittlungen und Vergebungen. Der "geborene Richter" (nämlich der
Mensch selber) weiss recht gut, ob sein Herz böse oder gut fühlt,
ob sein Handeln lauter oder unlauter ist, darum "ist die Selbstprüfung,

1) Tugendlehre § 18.
2) Kant definiert: "Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens,
dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände
des Wollens) ein Gesetz ist" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, II, 2).

Weltanschauung und Religion.
Ursachen als sinnlos perhorresciert, muss die Grundlage zur Handlungs-
weise des Menschen gegen sich und Andere in etwas Anderem gefunden
werden als in Gehorsam gegen einen regierenden Weltmonarchen und
in der Hoffnung auf eine zukünftige Belohnung. Wie ich schon früher
angedeutet (S. 776) und nunmehr erwiesen habe, kann neben einer
streng mechanischen Naturlehre einzig eine rein ideale Religion bestehen,
eine Religion heisst das, welche sich ihrerseits streng auf die ideale
Welt des Unmechanischen beschränkt. Wie schrankenlos diese Welt
auch sei — deren Flügelschlag aus der Ohnmacht der Erscheinung
befreit und alle Sterne überfliegt, deren Kraft dem qualvollsten Tode
lächelnd zu trotzen gestattet, die in einen Kuss Ewigkeit hineinzaubert,
und in einem Gedankenblitz Erlösung schenkt — ist sie dennoch auf ein
bestimmtes Gebiet angewiesen: auf das eigene Innere; dessen Grenzen
darf sie nie überschreiten. Hier also, im eigenen Innern, und nirgends
anders, muss die Grundlage der Religion gefunden werden. »Religion
zu haben ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst«, sagt Kant.1)
Aus Erwägungen, die ich hier nicht wiederholen kann, hält Kant,
wie Jeder weiss, den Gedanken an eine Gottheit hoch, doch legt er
grosses Gewicht darauf, dass der Mensch seine Pflichten nicht als
Pflichten gegen Gott, was ein zu schwankes Rohr wäre, sondern als
Pflichten gegen sich selbst aufzufassen habe. Was eben Wissenschaft
und Religion bei uns zu einer einheitlichen Weltanschauung verbindet,
ist das Prinzip, dass stets die Erfahrung gebietet; nun ist Gott nicht
eine Erfahrung, sondern ein Gedanke, und zwar ein undefinierbarer,
nie fassbar zu machender Gedanke, wogegen der Mensch sich selber
Erfahrung ist. Hier ist also die Quelle zu suchen, und darum ist die
Autonomie des Willens (d. h. seine freie Selbständigkeit) das oberste
Prinzip aller Sittlichkeit.2) Sittlich ist eine Handlung nur, insofern sie
aus dem innersten eigenen Willen hervorquillt und einem selbstge-
gebenen Gesetz gehorcht; wogegen die Hoffnung auf Lohn keine
Sittlichkeit erzeugen kann, noch auch jemals von ärgstem Laster und
Verbrechen abgehalten hat, denn jede äusserliche Religion hat Ver-
mittlungen und Vergebungen. Der »geborene Richter« (nämlich der
Mensch selber) weiss recht gut, ob sein Herz böse oder gut fühlt,
ob sein Handeln lauter oder unlauter ist, darum »ist die Selbstprüfung,

1) Tugendlehre § 18.
2) Kant definiert: »Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens,
dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände
des Wollens) ein Gesetz ist« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, II, 2).
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[939/0418] Weltanschauung und Religion. Ursachen als sinnlos perhorresciert, muss die Grundlage zur Handlungs- weise des Menschen gegen sich und Andere in etwas Anderem gefunden werden als in Gehorsam gegen einen regierenden Weltmonarchen und in der Hoffnung auf eine zukünftige Belohnung. Wie ich schon früher angedeutet (S. 776) und nunmehr erwiesen habe, kann neben einer streng mechanischen Naturlehre einzig eine rein ideale Religion bestehen, eine Religion heisst das, welche sich ihrerseits streng auf die ideale Welt des Unmechanischen beschränkt. Wie schrankenlos diese Welt auch sei — deren Flügelschlag aus der Ohnmacht der Erscheinung befreit und alle Sterne überfliegt, deren Kraft dem qualvollsten Tode lächelnd zu trotzen gestattet, die in einen Kuss Ewigkeit hineinzaubert, und in einem Gedankenblitz Erlösung schenkt — ist sie dennoch auf ein bestimmtes Gebiet angewiesen: auf das eigene Innere; dessen Grenzen darf sie nie überschreiten. Hier also, im eigenen Innern, und nirgends anders, muss die Grundlage der Religion gefunden werden. »Religion zu haben ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst«, sagt Kant. 1) Aus Erwägungen, die ich hier nicht wiederholen kann, hält Kant, wie Jeder weiss, den Gedanken an eine Gottheit hoch, doch legt er grosses Gewicht darauf, dass der Mensch seine Pflichten nicht als Pflichten gegen Gott, was ein zu schwankes Rohr wäre, sondern als Pflichten gegen sich selbst aufzufassen habe. Was eben Wissenschaft und Religion bei uns zu einer einheitlichen Weltanschauung verbindet, ist das Prinzip, dass stets die Erfahrung gebietet; nun ist Gott nicht eine Erfahrung, sondern ein Gedanke, und zwar ein undefinierbarer, nie fassbar zu machender Gedanke, wogegen der Mensch sich selber Erfahrung ist. Hier ist also die Quelle zu suchen, und darum ist die Autonomie des Willens (d. h. seine freie Selbständigkeit) das oberste Prinzip aller Sittlichkeit. 2) Sittlich ist eine Handlung nur, insofern sie aus dem innersten eigenen Willen hervorquillt und einem selbstge- gebenen Gesetz gehorcht; wogegen die Hoffnung auf Lohn keine Sittlichkeit erzeugen kann, noch auch jemals von ärgstem Laster und Verbrechen abgehalten hat, denn jede äusserliche Religion hat Ver- mittlungen und Vergebungen. Der »geborene Richter« (nämlich der Mensch selber) weiss recht gut, ob sein Herz böse oder gut fühlt, ob sein Handeln lauter oder unlauter ist, darum »ist die Selbstprüfung, 1) Tugendlehre § 18. 2) Kant definiert: »Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, II, 2).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 939. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/418>, abgerufen am 27.04.2024.