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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
die in die schwerer zu ergründenden Tiefen oder den Abgrund des
Herzens zu dringen verlangt, und die dadurch zu erhaltende Selbst-
erkenntnis, aller menschlichen Weisheit Anfang. ... Nur die Höllen-
fahrt der Selbsterkenntnis bahnt den Weg zur Himmelfahrt."1)

Betreffs dieser Autonomie des Willens und dieser Himmelfahrt
bitte ich den Leser in dem Kapitel über den Eintritt der Germanen
in die Weltgeschichte (S. 509 fg.) die Stelle nachzusehen, wo ich Kant's
herrlich kühnen Gedanken kurz dargelegt habe. Um den religiösen
Gedanken ganz zu fassen, fehlt aber noch ein Glied in der Kette.
Was giebt mir eine so hohe Meinung von dem, was ich bei jenem
Hinabsteigen in den Abgrund des Herzens entdecke? Es ist das Gewahr-
werden der hohen Würde des Menschen. Der erste Schritt nämlich,
um den wirklich sittlichen Standpunkt betreten zu können, geschieht
durch die Ausrottung der Verachtung seiner selbst und des Menschen-
geschlechts, wie sie die christliche Kirche -- im Gegensatz zu Christus
(siehe S. 44) -- grossgezogen hat. Das eingeborene Böse im Menschen-
herzen wird nicht durch Busse vertilgt, denn diese klebt wieder an
der äusseren Welt der Erscheinung, sondern dadurch, dass das Augen-
merk auf die hohen Anlagen im eigenen Innern gerichtet wird. Die
Würde des Menschen wächst mit seinem Bewusstsein davon. Es ist
von grosser Bedeutung, dass Kant hier genau mit Goethe überein-
stimmt. Man kennt dessen Lehre von den drei Ehrfurchten -- vor
dem, was über uns ist, vor dem, was uns gleich ist und vor dem,
was unter uns ist -- aus denen drei Arten echter Religion entstehen;
die wahre Religion aber geht aus einer vierten "obersten Ehrfurcht"
hervor, und sie ist die Ehrfurcht vor sich selbst; erst auf dieser
Stufe gelangt, nach Goethe, "der Mensch zum Höchsten, was er zu er-
reichen fähig ist."2) Auf dieses Thema habe ich ebenfalls an genannter
Stelle hingewiesen, und dabei auch Kant citiert; das damals Gesagte
muss ich jetzt durch eine der wichtigsten und herrlichsten Stellen aus

1) Kant schreibt "zur Vergötterung", was aber bei dem heute in der Um-
gangsprache üblichen Gebrauch des Wortes leicht zu einem Missverständnis führen
könnte. Schiller sagt: "der moralische Wille erhebt den Menschen zur Gott-
heit" (Anmut und Würde), und Voltaire: "Si Dieu n'est pas dans nous, il n'exista
jamais" (Poeme sur la Loi Naturelle).
Tiefsinnig ist auch Goethe's Wort: "Da Gott
Mensch geworden ist, damit wir arme, sinnliche Kreaturen ihn möchten fassen
und begreifen können, so muss man sich vor nichts mehr hüten, als ihn wieder
zu Gott zu machen" (Brief eines Landgeistlichen).
2) Wanderjahre, Buch 2, Kap. 1.

Die Entstehung einer neuen Welt.
die in die schwerer zu ergründenden Tiefen oder den Abgrund des
Herzens zu dringen verlangt, und die dadurch zu erhaltende Selbst-
erkenntnis, aller menschlichen Weisheit Anfang. … Nur die Höllen-
fahrt der Selbsterkenntnis bahnt den Weg zur Himmelfahrt.«1)

Betreffs dieser Autonomie des Willens und dieser Himmelfahrt
bitte ich den Leser in dem Kapitel über den Eintritt der Germanen
in die Weltgeschichte (S. 509 fg.) die Stelle nachzusehen, wo ich Kant’s
herrlich kühnen Gedanken kurz dargelegt habe. Um den religiösen
Gedanken ganz zu fassen, fehlt aber noch ein Glied in der Kette.
Was giebt mir eine so hohe Meinung von dem, was ich bei jenem
Hinabsteigen in den Abgrund des Herzens entdecke? Es ist das Gewahr-
werden der hohen Würde des Menschen. Der erste Schritt nämlich,
um den wirklich sittlichen Standpunkt betreten zu können, geschieht
durch die Ausrottung der Verachtung seiner selbst und des Menschen-
geschlechts, wie sie die christliche Kirche — im Gegensatz zu Christus
(siehe S. 44) — grossgezogen hat. Das eingeborene Böse im Menschen-
herzen wird nicht durch Busse vertilgt, denn diese klebt wieder an
der äusseren Welt der Erscheinung, sondern dadurch, dass das Augen-
merk auf die hohen Anlagen im eigenen Innern gerichtet wird. Die
Würde des Menschen wächst mit seinem Bewusstsein davon. Es ist
von grosser Bedeutung, dass Kant hier genau mit Goethe überein-
stimmt. Man kennt dessen Lehre von den drei Ehrfurchten — vor
dem, was über uns ist, vor dem, was uns gleich ist und vor dem,
was unter uns ist — aus denen drei Arten echter Religion entstehen;
die wahre Religion aber geht aus einer vierten »obersten Ehrfurcht«
hervor, und sie ist die Ehrfurcht vor sich selbst; erst auf dieser
Stufe gelangt, nach Goethe, »der Mensch zum Höchsten, was er zu er-
reichen fähig ist.«2) Auf dieses Thema habe ich ebenfalls an genannter
Stelle hingewiesen, und dabei auch Kant citiert; das damals Gesagte
muss ich jetzt durch eine der wichtigsten und herrlichsten Stellen aus

1) Kant schreibt »zur Vergötterung«, was aber bei dem heute in der Um-
gangsprache üblichen Gebrauch des Wortes leicht zu einem Missverständnis führen
könnte. Schiller sagt: »der moralische Wille erhebt den Menschen zur Gott-
heit« (Anmut und Würde), und Voltaire: »Si Dieu n’est pas dans nous, il n’exista
jamais« (Poëme sur la Loi Naturelle).
Tiefsinnig ist auch Goethe’s Wort: »Da Gott
Mensch geworden ist, damit wir arme, sinnliche Kreaturen ihn möchten fassen
und begreifen können, so muss man sich vor nichts mehr hüten, als ihn wieder
zu Gott zu machen« (Brief eines Landgeistlichen).
2) Wanderjahre, Buch 2, Kap. 1.
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[940/0419] Die Entstehung einer neuen Welt. die in die schwerer zu ergründenden Tiefen oder den Abgrund des Herzens zu dringen verlangt, und die dadurch zu erhaltende Selbst- erkenntnis, aller menschlichen Weisheit Anfang. … Nur die Höllen- fahrt der Selbsterkenntnis bahnt den Weg zur Himmelfahrt.« 1) Betreffs dieser Autonomie des Willens und dieser Himmelfahrt bitte ich den Leser in dem Kapitel über den Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte (S. 509 fg.) die Stelle nachzusehen, wo ich Kant’s herrlich kühnen Gedanken kurz dargelegt habe. Um den religiösen Gedanken ganz zu fassen, fehlt aber noch ein Glied in der Kette. Was giebt mir eine so hohe Meinung von dem, was ich bei jenem Hinabsteigen in den Abgrund des Herzens entdecke? Es ist das Gewahr- werden der hohen Würde des Menschen. Der erste Schritt nämlich, um den wirklich sittlichen Standpunkt betreten zu können, geschieht durch die Ausrottung der Verachtung seiner selbst und des Menschen- geschlechts, wie sie die christliche Kirche — im Gegensatz zu Christus (siehe S. 44) — grossgezogen hat. Das eingeborene Böse im Menschen- herzen wird nicht durch Busse vertilgt, denn diese klebt wieder an der äusseren Welt der Erscheinung, sondern dadurch, dass das Augen- merk auf die hohen Anlagen im eigenen Innern gerichtet wird. Die Würde des Menschen wächst mit seinem Bewusstsein davon. Es ist von grosser Bedeutung, dass Kant hier genau mit Goethe überein- stimmt. Man kennt dessen Lehre von den drei Ehrfurchten — vor dem, was über uns ist, vor dem, was uns gleich ist und vor dem, was unter uns ist — aus denen drei Arten echter Religion entstehen; die wahre Religion aber geht aus einer vierten »obersten Ehrfurcht« hervor, und sie ist die Ehrfurcht vor sich selbst; erst auf dieser Stufe gelangt, nach Goethe, »der Mensch zum Höchsten, was er zu er- reichen fähig ist.« 2) Auf dieses Thema habe ich ebenfalls an genannter Stelle hingewiesen, und dabei auch Kant citiert; das damals Gesagte muss ich jetzt durch eine der wichtigsten und herrlichsten Stellen aus 1) Kant schreibt »zur Vergötterung«, was aber bei dem heute in der Um- gangsprache üblichen Gebrauch des Wortes leicht zu einem Missverständnis führen könnte. Schiller sagt: »der moralische Wille erhebt den Menschen zur Gott- heit« (Anmut und Würde), und Voltaire: »Si Dieu n’est pas dans nous, il n’exista jamais« (Poëme sur la Loi Naturelle). Tiefsinnig ist auch Goethe’s Wort: »Da Gott Mensch geworden ist, damit wir arme, sinnliche Kreaturen ihn möchten fassen und begreifen können, so muss man sich vor nichts mehr hüten, als ihn wieder zu Gott zu machen« (Brief eines Landgeistlichen). 2) Wanderjahre, Buch 2, Kap. 1.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 940. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/419>, abgerufen am 27.04.2024.