Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Entstehung einer neuen Welt.
weit auf; wir treten unmittelbar aus der Umgebung des Zeitlichen
in die Gegenwart des Zeitlosen. Wie dieser Künstler selber trium-
phiert: dall'arte e vinta la natura! besiegt ist Natur durch Kunst;
das heisst, genötigt ist das Sichtbare, dem Unsichtbaren Gestalt zu
verleihen, das Notwendige, der Freiheit zu dienen; lebendige Offen-
barung des Unerforschlichen beut nunmehr der Stein.

Leicht muss ein Jeder begreifen, welche mächtige Unterstützung
eine auf unmittelbarer Erfahrung beruhende Religion aus einer der-
artigen Fähigkeit schöpft. Die Kunst vermag es, die einmalige Er-
fahrung immer von Neuem zu gebären; sie vermag es, in der Per-
sönlichkeit das Überpersönliche, in der vergänglichen Erscheinung das
Unvergängliche zu offenbaren; ein Leonardo schenkt uns die Gestalt,
ein Johann Sebastian Bach die Stimme Jesu Christi, ewig nun gegen-
wärtig. Ausserdem deckt die Kunst jene "Religion", die in dem
Einen unnachahmliches, überzeugendes Dasein gefunden hatte, auch
an anderem Orte auf, und eine tiefe Ergriffenheit bemächtigt sich
unser, wenn wir in einem Selbstbildnis Albrecht Dürer's oder Rem-
brandt's Augen erblicken, die uns in jene selbe Welt hineinführen,
in welcher Jesus Christus "lebte und webte und Dasein fand", und
deren Schwelle die Worte und die Gedanken nicht überschreiten dürfen.
Etwas hiervon hat jede erhabene Kunst, denn das ja ist es, was sie
erhaben macht. Nicht allein des Menschen Antlitz, sondern alles,
was ein Menschenauge erblickt, was ein Menschengedanke erfasst und
nach dem Gesetz der inneren unmechanischen Freiheit neu gestaltet
hat, öffnet jenes Thor der "augenblicklichen Offenbarung"; denn
jedes Werk der Kunst stellt uns dem schöpferischen Künstler gegen-
über, und das heisst dem Walten derselben zugleich transscendenten
und realen Welt, aus der Christus spricht, wenn er sagt, in diesem
Leben liege das Himmelreich wie ein Schatz im Acker vergraben.
Man betrachte eines der vielen Christusbilder Rembrandt's, z. B. das
Hundertguldenblatt, und halte daneben seine Landschaft mit den
drei Bäumen:
man wird mich verstehen. Und man wird mir Recht
geben, wenn ich sage, Kunst ist zwar nicht Religion -- denn ideale
Religion ist ein thatsächlicher Vorgang im innersten Herzen jedes Ein-
zelnen, jene Umkehr und Wiedergeburt, von der Christus sprach --
Kunst versetzt uns aber in die Atmosphäre der Religion, sie vermag
es, die ganze Natur für uns zu verklären, und durch ihre erhabensten
Offenbarungen regt sie unser innerstes Wesen so tief und unmittelbar
an, dass manche Menschen nur durch die Kunst dazu gelangen, zu

Die Entstehung einer neuen Welt.
weit auf; wir treten unmittelbar aus der Umgebung des Zeitlichen
in die Gegenwart des Zeitlosen. Wie dieser Künstler selber trium-
phiert: dall’arte è vinta la natura! besiegt ist Natur durch Kunst;
das heisst, genötigt ist das Sichtbare, dem Unsichtbaren Gestalt zu
verleihen, das Notwendige, der Freiheit zu dienen; lebendige Offen-
barung des Unerforschlichen beut nunmehr der Stein.

Leicht muss ein Jeder begreifen, welche mächtige Unterstützung
eine auf unmittelbarer Erfahrung beruhende Religion aus einer der-
artigen Fähigkeit schöpft. Die Kunst vermag es, die einmalige Er-
fahrung immer von Neuem zu gebären; sie vermag es, in der Per-
sönlichkeit das Überpersönliche, in der vergänglichen Erscheinung das
Unvergängliche zu offenbaren; ein Leonardo schenkt uns die Gestalt,
ein Johann Sebastian Bach die Stimme Jesu Christi, ewig nun gegen-
wärtig. Ausserdem deckt die Kunst jene »Religion«, die in dem
Einen unnachahmliches, überzeugendes Dasein gefunden hatte, auch
an anderem Orte auf, und eine tiefe Ergriffenheit bemächtigt sich
unser, wenn wir in einem Selbstbildnis Albrecht Dürer’s oder Rem-
brandt’s Augen erblicken, die uns in jene selbe Welt hineinführen,
in welcher Jesus Christus »lebte und webte und Dasein fand«, und
deren Schwelle die Worte und die Gedanken nicht überschreiten dürfen.
Etwas hiervon hat jede erhabene Kunst, denn das ja ist es, was sie
erhaben macht. Nicht allein des Menschen Antlitz, sondern alles,
was ein Menschenauge erblickt, was ein Menschengedanke erfasst und
nach dem Gesetz der inneren unmechanischen Freiheit neu gestaltet
hat, öffnet jenes Thor der »augenblicklichen Offenbarung«; denn
jedes Werk der Kunst stellt uns dem schöpferischen Künstler gegen-
über, und das heisst dem Walten derselben zugleich transscendenten
und realen Welt, aus der Christus spricht, wenn er sagt, in diesem
Leben liege das Himmelreich wie ein Schatz im Acker vergraben.
Man betrachte eines der vielen Christusbilder Rembrandt’s, z. B. das
Hundertguldenblatt, und halte daneben seine Landschaft mit den
drei Bäumen:
man wird mich verstehen. Und man wird mir Recht
geben, wenn ich sage, Kunst ist zwar nicht Religion — denn ideale
Religion ist ein thatsächlicher Vorgang im innersten Herzen jedes Ein-
zelnen, jene Umkehr und Wiedergeburt, von der Christus sprach —
Kunst versetzt uns aber in die Atmosphäre der Religion, sie vermag
es, die ganze Natur für uns zu verklären, und durch ihre erhabensten
Offenbarungen regt sie unser innerstes Wesen so tief und unmittelbar
an, dass manche Menschen nur durch die Kunst dazu gelangen, zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0433" n="954"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/>
weit auf; wir treten unmittelbar aus der Umgebung des Zeitlichen<lb/>
in die Gegenwart des Zeitlosen. Wie dieser Künstler selber trium-<lb/>
phiert: <hi rendition="#i">dall&#x2019;arte è vinta la natura!</hi> besiegt ist Natur durch Kunst;<lb/>
das heisst, genötigt ist das Sichtbare, dem Unsichtbaren Gestalt zu<lb/>
verleihen, das Notwendige, der Freiheit zu dienen; lebendige Offen-<lb/>
barung des Unerforschlichen beut nunmehr der Stein.</p><lb/>
              <p>Leicht muss ein Jeder begreifen, welche mächtige Unterstützung<lb/>
eine auf unmittelbarer Erfahrung beruhende Religion aus einer der-<lb/>
artigen Fähigkeit schöpft. Die Kunst vermag es, die einmalige Er-<lb/>
fahrung immer von Neuem zu gebären; sie vermag es, in der Per-<lb/>
sönlichkeit das Überpersönliche, in der vergänglichen Erscheinung das<lb/>
Unvergängliche zu offenbaren; ein Leonardo schenkt uns die Gestalt,<lb/>
ein Johann Sebastian Bach die Stimme Jesu Christi, ewig nun gegen-<lb/>
wärtig. Ausserdem deckt die Kunst jene »Religion«, die in dem<lb/>
Einen unnachahmliches, überzeugendes Dasein gefunden hatte, auch<lb/>
an anderem Orte auf, und eine tiefe Ergriffenheit bemächtigt sich<lb/>
unser, wenn wir in einem Selbstbildnis Albrecht Dürer&#x2019;s oder Rem-<lb/>
brandt&#x2019;s Augen erblicken, die uns in jene selbe Welt hineinführen,<lb/>
in welcher Jesus Christus »lebte und webte und Dasein fand«, und<lb/>
deren Schwelle die Worte und die Gedanken nicht überschreiten dürfen.<lb/>
Etwas hiervon hat jede erhabene Kunst, denn das ja ist es, was sie<lb/>
erhaben macht. Nicht allein des Menschen Antlitz, sondern alles,<lb/>
was ein Menschenauge erblickt, was ein Menschengedanke erfasst und<lb/>
nach dem Gesetz der inneren unmechanischen Freiheit neu gestaltet<lb/>
hat, öffnet jenes Thor der »augenblicklichen Offenbarung«; denn<lb/>
jedes Werk der Kunst stellt uns dem schöpferischen Künstler gegen-<lb/>
über, und das heisst dem Walten derselben zugleich transscendenten<lb/>
und realen Welt, aus der Christus spricht, wenn er sagt, in diesem<lb/>
Leben liege das Himmelreich wie ein Schatz im Acker vergraben.<lb/>
Man betrachte eines der vielen Christusbilder Rembrandt&#x2019;s, z. B. das<lb/><hi rendition="#i">Hundertguldenblatt,</hi> und halte daneben seine <hi rendition="#i">Landschaft mit den<lb/>
drei Bäumen:</hi> man wird mich verstehen. Und man wird mir Recht<lb/>
geben, wenn ich sage, Kunst <hi rendition="#g">ist</hi> zwar nicht Religion &#x2014; denn ideale<lb/>
Religion ist ein thatsächlicher Vorgang im innersten Herzen jedes Ein-<lb/>
zelnen, jene Umkehr und Wiedergeburt, von der Christus sprach &#x2014;<lb/>
Kunst versetzt uns aber in die Atmosphäre der Religion, sie vermag<lb/>
es, die ganze Natur für uns zu verklären, und durch ihre erhabensten<lb/>
Offenbarungen regt sie unser innerstes Wesen so tief und unmittelbar<lb/>
an, dass manche Menschen nur durch die Kunst dazu gelangen, zu<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[954/0433] Die Entstehung einer neuen Welt. weit auf; wir treten unmittelbar aus der Umgebung des Zeitlichen in die Gegenwart des Zeitlosen. Wie dieser Künstler selber trium- phiert: dall’arte è vinta la natura! besiegt ist Natur durch Kunst; das heisst, genötigt ist das Sichtbare, dem Unsichtbaren Gestalt zu verleihen, das Notwendige, der Freiheit zu dienen; lebendige Offen- barung des Unerforschlichen beut nunmehr der Stein. Leicht muss ein Jeder begreifen, welche mächtige Unterstützung eine auf unmittelbarer Erfahrung beruhende Religion aus einer der- artigen Fähigkeit schöpft. Die Kunst vermag es, die einmalige Er- fahrung immer von Neuem zu gebären; sie vermag es, in der Per- sönlichkeit das Überpersönliche, in der vergänglichen Erscheinung das Unvergängliche zu offenbaren; ein Leonardo schenkt uns die Gestalt, ein Johann Sebastian Bach die Stimme Jesu Christi, ewig nun gegen- wärtig. Ausserdem deckt die Kunst jene »Religion«, die in dem Einen unnachahmliches, überzeugendes Dasein gefunden hatte, auch an anderem Orte auf, und eine tiefe Ergriffenheit bemächtigt sich unser, wenn wir in einem Selbstbildnis Albrecht Dürer’s oder Rem- brandt’s Augen erblicken, die uns in jene selbe Welt hineinführen, in welcher Jesus Christus »lebte und webte und Dasein fand«, und deren Schwelle die Worte und die Gedanken nicht überschreiten dürfen. Etwas hiervon hat jede erhabene Kunst, denn das ja ist es, was sie erhaben macht. Nicht allein des Menschen Antlitz, sondern alles, was ein Menschenauge erblickt, was ein Menschengedanke erfasst und nach dem Gesetz der inneren unmechanischen Freiheit neu gestaltet hat, öffnet jenes Thor der »augenblicklichen Offenbarung«; denn jedes Werk der Kunst stellt uns dem schöpferischen Künstler gegen- über, und das heisst dem Walten derselben zugleich transscendenten und realen Welt, aus der Christus spricht, wenn er sagt, in diesem Leben liege das Himmelreich wie ein Schatz im Acker vergraben. Man betrachte eines der vielen Christusbilder Rembrandt’s, z. B. das Hundertguldenblatt, und halte daneben seine Landschaft mit den drei Bäumen: man wird mich verstehen. Und man wird mir Recht geben, wenn ich sage, Kunst ist zwar nicht Religion — denn ideale Religion ist ein thatsächlicher Vorgang im innersten Herzen jedes Ein- zelnen, jene Umkehr und Wiedergeburt, von der Christus sprach — Kunst versetzt uns aber in die Atmosphäre der Religion, sie vermag es, die ganze Natur für uns zu verklären, und durch ihre erhabensten Offenbarungen regt sie unser innerstes Wesen so tief und unmittelbar an, dass manche Menschen nur durch die Kunst dazu gelangen, zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/433
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 954. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/433>, abgerufen am 27.04.2024.