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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
wissen, was Religion ist. Dass das Reciproke ebenfalls gilt, ist ohne
Weiteres einleuchtend, und man begreift, dass Goethe -- dem man
Frömmigkeit im Sinne unserer historischen Kirchen kaum vorwerfen
wird -- behaupten konnte: nur religiöse Menschen besässen schöpfe-
rische Kraft.1)

Soviel zur Bestimmung dessen, was wir unter dem Worte "Kunst"
zu verstehen und zu verehren haben, und zur Abwehr einer Schwächung
des Begriffes durch kritiklose Erweiterung. Die theoretische Definition
der Kunst habe ich geglaubt durch den Hinweis auf das, was Kunst
des Genies im allgemeinen Zusammenhang der Kultur leistet, ergänzen
zu sollen; dadurch tritt die Bedeutung des Begriffes in konkreter Leb-
haftigkeit vor den Geist. Wie man sieht, Polemik kann uns in kurzer
Zeit weit fördern. Ich wende mich also zum zweiten Punkt: zu der
von unseren Kunsthistorikern beliebten sinnwidrigen Beschränkung
des Begriffes "Kunst".

In keiner Kunstgeschichte des heutigen Tages ist von Dicht-Der
tonvermählte
Dichter.

kunst oder Tonkunst die Rede; erstere gehört jetzt zur Litteratur
(auf Deutsch "Buchstäblerei"), letztere ist eine Sache für sich, weder
Fisch noch Fleisch, deren Technik zu abstrus und mühsam ist, um
ausserhalb des engsten fachmännischen Kreises Interesse und Verständ-
nis zu finden, und deren Wirkung zu unmittelbar physisch und all-
gemein ist, als dass sie nicht als Kunst der misera plebs und der
oberflächlichen dilettanti bei den Gelehrten einer gewissen Gering-
schätzung anheim fallen sollte. Und doch braucht man nur die Augen
zu einer umfassenden Rundschau aufzumachen, um sofort einzusehen,
dass die Poesie, nicht allein schon an und für sich, wie die Philo-
sophen behaupten, den "obersten Rang" unter allen Künsten ein-
nimmt, sondern die unmittelbare Quelle fast jegliches künstlerischen
Schaffens und der schöpferische Herd auch derjenigen Kunstwerke ist,
welche nicht unmittelbar an sie sich anlehnen. Ausserdem werden
wir aus jeder historischen, wie auch aus jeder kritischen Untersuchung
mit Lessing die Ueberzeugung gewinnen, dass Poesie und Musik nicht
zwei Künste sind, sondern vielmehr "eine und dieselbe Kunst". Der
tonvermählte Dichter ist es, der uns überhaupt zu "Kunst" erweckt;
er ist es, der uns Auge und Ohr öffnet; bei ihm, mehr als bei
irgend einem anderen Gestalter, herrscht jene gebietende Freiheit,
welche die Natur ihrem Willen unterwirft, und als Freiester aller

1) Vergl. das Gespräch mit Riemer vom 26. März 1814.
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Kunst.
wissen, was Religion ist. Dass das Reciproke ebenfalls gilt, ist ohne
Weiteres einleuchtend, und man begreift, dass Goethe — dem man
Frömmigkeit im Sinne unserer historischen Kirchen kaum vorwerfen
wird — behaupten konnte: nur religiöse Menschen besässen schöpfe-
rische Kraft.1)

Soviel zur Bestimmung dessen, was wir unter dem Worte »Kunst«
zu verstehen und zu verehren haben, und zur Abwehr einer Schwächung
des Begriffes durch kritiklose Erweiterung. Die theoretische Definition
der Kunst habe ich geglaubt durch den Hinweis auf das, was Kunst
des Genies im allgemeinen Zusammenhang der Kultur leistet, ergänzen
zu sollen; dadurch tritt die Bedeutung des Begriffes in konkreter Leb-
haftigkeit vor den Geist. Wie man sieht, Polemik kann uns in kurzer
Zeit weit fördern. Ich wende mich also zum zweiten Punkt: zu der
von unseren Kunsthistorikern beliebten sinnwidrigen Beschränkung
des Begriffes »Kunst«.

In keiner Kunstgeschichte des heutigen Tages ist von Dicht-Der
tonvermählte
Dichter.

kunst oder Tonkunst die Rede; erstere gehört jetzt zur Litteratur
(auf Deutsch »Buchstäblerei«), letztere ist eine Sache für sich, weder
Fisch noch Fleisch, deren Technik zu abstrus und mühsam ist, um
ausserhalb des engsten fachmännischen Kreises Interesse und Verständ-
nis zu finden, und deren Wirkung zu unmittelbar physisch und all-
gemein ist, als dass sie nicht als Kunst der misera plebs und der
oberflächlichen dilettanti bei den Gelehrten einer gewissen Gering-
schätzung anheim fallen sollte. Und doch braucht man nur die Augen
zu einer umfassenden Rundschau aufzumachen, um sofort einzusehen,
dass die Poesie, nicht allein schon an und für sich, wie die Philo-
sophen behaupten, den »obersten Rang« unter allen Künsten ein-
nimmt, sondern die unmittelbare Quelle fast jegliches künstlerischen
Schaffens und der schöpferische Herd auch derjenigen Kunstwerke ist,
welche nicht unmittelbar an sie sich anlehnen. Ausserdem werden
wir aus jeder historischen, wie auch aus jeder kritischen Untersuchung
mit Lessing die Ueberzeugung gewinnen, dass Poesie und Musik nicht
zwei Künste sind, sondern vielmehr »eine und dieselbe Kunst«. Der
tonvermählte Dichter ist es, der uns überhaupt zu »Kunst« erweckt;
er ist es, der uns Auge und Ohr öffnet; bei ihm, mehr als bei
irgend einem anderen Gestalter, herrscht jene gebietende Freiheit,
welche die Natur ihrem Willen unterwirft, und als Freiester aller

1) Vergl. das Gespräch mit Riemer vom 26. März 1814.
61*
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[955/0434] Kunst. wissen, was Religion ist. Dass das Reciproke ebenfalls gilt, ist ohne Weiteres einleuchtend, und man begreift, dass Goethe — dem man Frömmigkeit im Sinne unserer historischen Kirchen kaum vorwerfen wird — behaupten konnte: nur religiöse Menschen besässen schöpfe- rische Kraft. 1) Soviel zur Bestimmung dessen, was wir unter dem Worte »Kunst« zu verstehen und zu verehren haben, und zur Abwehr einer Schwächung des Begriffes durch kritiklose Erweiterung. Die theoretische Definition der Kunst habe ich geglaubt durch den Hinweis auf das, was Kunst des Genies im allgemeinen Zusammenhang der Kultur leistet, ergänzen zu sollen; dadurch tritt die Bedeutung des Begriffes in konkreter Leb- haftigkeit vor den Geist. Wie man sieht, Polemik kann uns in kurzer Zeit weit fördern. Ich wende mich also zum zweiten Punkt: zu der von unseren Kunsthistorikern beliebten sinnwidrigen Beschränkung des Begriffes »Kunst«. In keiner Kunstgeschichte des heutigen Tages ist von Dicht- kunst oder Tonkunst die Rede; erstere gehört jetzt zur Litteratur (auf Deutsch »Buchstäblerei«), letztere ist eine Sache für sich, weder Fisch noch Fleisch, deren Technik zu abstrus und mühsam ist, um ausserhalb des engsten fachmännischen Kreises Interesse und Verständ- nis zu finden, und deren Wirkung zu unmittelbar physisch und all- gemein ist, als dass sie nicht als Kunst der misera plebs und der oberflächlichen dilettanti bei den Gelehrten einer gewissen Gering- schätzung anheim fallen sollte. Und doch braucht man nur die Augen zu einer umfassenden Rundschau aufzumachen, um sofort einzusehen, dass die Poesie, nicht allein schon an und für sich, wie die Philo- sophen behaupten, den »obersten Rang« unter allen Künsten ein- nimmt, sondern die unmittelbare Quelle fast jegliches künstlerischen Schaffens und der schöpferische Herd auch derjenigen Kunstwerke ist, welche nicht unmittelbar an sie sich anlehnen. Ausserdem werden wir aus jeder historischen, wie auch aus jeder kritischen Untersuchung mit Lessing die Ueberzeugung gewinnen, dass Poesie und Musik nicht zwei Künste sind, sondern vielmehr »eine und dieselbe Kunst«. Der tonvermählte Dichter ist es, der uns überhaupt zu »Kunst« erweckt; er ist es, der uns Auge und Ohr öffnet; bei ihm, mehr als bei irgend einem anderen Gestalter, herrscht jene gebietende Freiheit, welche die Natur ihrem Willen unterwirft, und als Freiester aller Der tonvermählte Dichter. 1) Vergl. das Gespräch mit Riemer vom 26. März 1814. 61*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 955. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/434>, abgerufen am 27.04.2024.