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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Künstler ist er unbestritten der Erste. Die gesamte bildende Kunst
könnte vernichtet werden und es bliebe die Poesie -- der tonvermählte
Dichter -- unangetastet stehen; ihr Reich wäre nicht um einen Schritt
enger, sondern nur hier und dort gestaltenleer. Denn im Grunde
genommen drücken wir uns sehr ungenau aus, wenn wir sagen, die
Dichtkunst sei "die erste" unter den Künsten: vielmehr ist sie die
einzige. Die Poesie ist die allumfassende, welche jeder anderen Leben
spendet, so dass, wo diese Anderen sich emanzipieren, sie dann selber
wieder -- so gut es ihnen gelingen will -- "dichten" müssen. Man
überlege es sich doch: wie wäre die bildende Kunst der Hellenen
auch nur denkbar ohne ihre dichtende Kunst? Hat nicht Homer dem
Phidias den Meissel geführt? Musste nicht der hellenische Dichter die
Gestalten schaffen, ehe der hellenische Bildner sie nachschaffen konnte?
Und glaubt man, der griechische Architekt hätte unnachahmlich voll-
endete Gotteshäuser errichtet, wenn nicht der Dichter ihm so herrliche
Göttergestalten vorgezaubert hätte, dass er sich genötigt fühlte, jede
Faser seines Wesens dem Erfindungswerk zu widmen, damit er nicht
zu weit hinter dem zurückbliebe, was ihm und jedem seiner Zeit-
genossen in der Phantasie als ein Göttliches und der Götter Würdiges
vorschwebte? Bei uns ist es aber nicht anders. Unsere bildende Kunst
knüpfte teils bei der hellenischen, zum noch grösseren Teil aber bei
der christlich-religiösen Dichtung an. Ehe sie der Bildner erfassen
kann, müssen eben die Gestalten in der Phantasie da sein; der Gott
muss geglaubt sein, ehe man ihm Häuser baut. Hier sehen wir die
Religion -- wie Goethe es will -- als Quelle aller Produktivität. Doch
muss historische Religion poetische Gestalt gewonnen haben, ehe wir
sie bilden und im Bildnis begreifen können: das Evangelium, die
Legende, das Gedicht geht voran und bildet den unerlässlichen Kom-
mentar zu jedem heiligen Abendmahl, zu jeder Kreuzigung, zu jedem
Inferno. Nun griff allerdings der germanische Künstler, seiner echten,
unterscheidenden Eigenart gemäss, und sobald er das Technische in
seine Gewalt bekommen hatte, viel tiefer; ihm war mit dem Inder
der Zug zur Natur gemeinsam; daher jene doppelte Richtung, die
uns in einem Albrecht Dürer so auffällt: hinaus, zur peinlich ge-
nauen Beobachtung und liebevoll gewissenhaften Wiedergabe jedes
Grashalmes, jedes Käferchens, hinein, in die unerforschliche innere
Natur, durch das menschliche Bildnis und durch tiefsinnige Alle-
gorien. Hier ist echteste Religion am Werke und -- wie ich es vorhin
zeigte -- deswegen echteste Kunst. Hier spiegelt sich die Geistesrichtung

Die Entstehung einer neuen Welt.
Künstler ist er unbestritten der Erste. Die gesamte bildende Kunst
könnte vernichtet werden und es bliebe die Poesie — der tonvermählte
Dichter — unangetastet stehen; ihr Reich wäre nicht um einen Schritt
enger, sondern nur hier und dort gestaltenleer. Denn im Grunde
genommen drücken wir uns sehr ungenau aus, wenn wir sagen, die
Dichtkunst sei »die erste« unter den Künsten: vielmehr ist sie die
einzige. Die Poesie ist die allumfassende, welche jeder anderen Leben
spendet, so dass, wo diese Anderen sich emanzipieren, sie dann selber
wieder — so gut es ihnen gelingen will — »dichten« müssen. Man
überlege es sich doch: wie wäre die bildende Kunst der Hellenen
auch nur denkbar ohne ihre dichtende Kunst? Hat nicht Homer dem
Phidias den Meissel geführt? Musste nicht der hellenische Dichter die
Gestalten schaffen, ehe der hellenische Bildner sie nachschaffen konnte?
Und glaubt man, der griechische Architekt hätte unnachahmlich voll-
endete Gotteshäuser errichtet, wenn nicht der Dichter ihm so herrliche
Göttergestalten vorgezaubert hätte, dass er sich genötigt fühlte, jede
Faser seines Wesens dem Erfindungswerk zu widmen, damit er nicht
zu weit hinter dem zurückbliebe, was ihm und jedem seiner Zeit-
genossen in der Phantasie als ein Göttliches und der Götter Würdiges
vorschwebte? Bei uns ist es aber nicht anders. Unsere bildende Kunst
knüpfte teils bei der hellenischen, zum noch grösseren Teil aber bei
der christlich-religiösen Dichtung an. Ehe sie der Bildner erfassen
kann, müssen eben die Gestalten in der Phantasie da sein; der Gott
muss geglaubt sein, ehe man ihm Häuser baut. Hier sehen wir die
Religion — wie Goethe es will — als Quelle aller Produktivität. Doch
muss historische Religion poetische Gestalt gewonnen haben, ehe wir
sie bilden und im Bildnis begreifen können: das Evangelium, die
Legende, das Gedicht geht voran und bildet den unerlässlichen Kom-
mentar zu jedem heiligen Abendmahl, zu jeder Kreuzigung, zu jedem
Inferno. Nun griff allerdings der germanische Künstler, seiner echten,
unterscheidenden Eigenart gemäss, und sobald er das Technische in
seine Gewalt bekommen hatte, viel tiefer; ihm war mit dem Inder
der Zug zur Natur gemeinsam; daher jene doppelte Richtung, die
uns in einem Albrecht Dürer so auffällt: hinaus, zur peinlich ge-
nauen Beobachtung und liebevoll gewissenhaften Wiedergabe jedes
Grashalmes, jedes Käferchens, hinein, in die unerforschliche innere
Natur, durch das menschliche Bildnis und durch tiefsinnige Alle-
gorien. Hier ist echteste Religion am Werke und — wie ich es vorhin
zeigte — deswegen echteste Kunst. Hier spiegelt sich die Geistesrichtung

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[956/0435] Die Entstehung einer neuen Welt. Künstler ist er unbestritten der Erste. Die gesamte bildende Kunst könnte vernichtet werden und es bliebe die Poesie — der tonvermählte Dichter — unangetastet stehen; ihr Reich wäre nicht um einen Schritt enger, sondern nur hier und dort gestaltenleer. Denn im Grunde genommen drücken wir uns sehr ungenau aus, wenn wir sagen, die Dichtkunst sei »die erste« unter den Künsten: vielmehr ist sie die einzige. Die Poesie ist die allumfassende, welche jeder anderen Leben spendet, so dass, wo diese Anderen sich emanzipieren, sie dann selber wieder — so gut es ihnen gelingen will — »dichten« müssen. Man überlege es sich doch: wie wäre die bildende Kunst der Hellenen auch nur denkbar ohne ihre dichtende Kunst? Hat nicht Homer dem Phidias den Meissel geführt? Musste nicht der hellenische Dichter die Gestalten schaffen, ehe der hellenische Bildner sie nachschaffen konnte? Und glaubt man, der griechische Architekt hätte unnachahmlich voll- endete Gotteshäuser errichtet, wenn nicht der Dichter ihm so herrliche Göttergestalten vorgezaubert hätte, dass er sich genötigt fühlte, jede Faser seines Wesens dem Erfindungswerk zu widmen, damit er nicht zu weit hinter dem zurückbliebe, was ihm und jedem seiner Zeit- genossen in der Phantasie als ein Göttliches und der Götter Würdiges vorschwebte? Bei uns ist es aber nicht anders. Unsere bildende Kunst knüpfte teils bei der hellenischen, zum noch grösseren Teil aber bei der christlich-religiösen Dichtung an. Ehe sie der Bildner erfassen kann, müssen eben die Gestalten in der Phantasie da sein; der Gott muss geglaubt sein, ehe man ihm Häuser baut. Hier sehen wir die Religion — wie Goethe es will — als Quelle aller Produktivität. Doch muss historische Religion poetische Gestalt gewonnen haben, ehe wir sie bilden und im Bildnis begreifen können: das Evangelium, die Legende, das Gedicht geht voran und bildet den unerlässlichen Kom- mentar zu jedem heiligen Abendmahl, zu jeder Kreuzigung, zu jedem Inferno. Nun griff allerdings der germanische Künstler, seiner echten, unterscheidenden Eigenart gemäss, und sobald er das Technische in seine Gewalt bekommen hatte, viel tiefer; ihm war mit dem Inder der Zug zur Natur gemeinsam; daher jene doppelte Richtung, die uns in einem Albrecht Dürer so auffällt: hinaus, zur peinlich ge- nauen Beobachtung und liebevoll gewissenhaften Wiedergabe jedes Grashalmes, jedes Käferchens, hinein, in die unerforschliche innere Natur, durch das menschliche Bildnis und durch tiefsinnige Alle- gorien. Hier ist echteste Religion am Werke und — wie ich es vorhin zeigte — deswegen echteste Kunst. Hier spiegelt sich die Geistesrichtung

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 956. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/435>, abgerufen am 27.04.2024.