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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
der Mystiker (auf die Natur), die Geistesrichtung der Humanisten
(auf die Würde des Menschen), die Geistesrichtung der natur-
forschenden Philosophen (auf die Unzulänglichkeit der Erscheinung)
genau wieder. Ein Jeder trägt eben seinen Stein herbei zur Auf-
erbauung der neuen Welt, und da der einheitliche Geist einer be-
stimmten Menschenart gebietet, fügt sich alles genau ineinander. Ich
bin also weit entfernt zu leugnen, dass unsere bildende Kunst sich
ungleich mehr von der Dichtkunst (d. h. von dem thatsächlich in
Worten Gedichteten) emanzipiert hat, als das bei den Hellenen der
Fall war; ich glaube sogar, es lässt sich eine zunehmende Bewegung
in diesem Sinne verfolgen, vom 13. Jahrhundert bis zum heutigen
Tage. Doch wird man darum nicht verkennen wollen, dass diese
Kunst ohne Berücksichtigung des allgemeinen Kulturganges nicht ver-
standen werden kann, und man wird einsehen müssen, dass überall
die allgewaltige, freie Dichtkunst tonangebend voranging und den so
vielfach gebundenen Schwestern die Wege ebnete. Ein Franz von
Assisi musste die Natur an sein inbrünstiges Herz drücken und ein
Gottfried von Strassburg sie begeistert schildern, ehe uns die Augen
für sie aufgingen und der Pinsel sie nachzubilden versuchte; ein ge-
waltiges dichterisches Werk war in allen Gauen Europa's vollbracht --
von Florenz bis London -- ehe das Menschenantlitz vom Maler in
seiner Würde erkannt ward und ehe in dessen Werken Persönlichkeit
an Stelle von Typus zu treten begann. Ehe vollends ein Rembrandt
wirken konnte, musste ein Shakespeare gelebt haben. Bei der Allegorie
ist das Verhältnis der bildenden Künste zur Dichtkunst so auffallend,
dass es wohl Keinem entgehen kann. Hier will der Bildner selbständig
dichten. Ich führte in der Einleitung (S. 4) Worte von Michelangelo
an, in denen dieser den Stein und den unbeschriebenen Papierbogen
einander gleichstellt, in jeden käme nur das hinein, was er wolle.
Er dichtet also -- wie mit der Feder, so auch mit Meissel und Pinsel.

the kindled marble's bust may wear
More poesy upon its speaking brow
Than aught less than the Homeric page may bear!

(Byron, Prophecy of Dante.)

Michelangelo's Erschaffung des Lichtes ist seine eigene Erfindung:
doch würden wir sie nicht verstehen, wenn sie sich nicht an einen
allbekannten Mythus unmittelbar anlehnte. Und seine Figuren: der
Tag
und die Nacht, darüber Lorenzo de' Medici, was sind sie, wenn

Kunst.
der Mystiker (auf die Natur), die Geistesrichtung der Humanisten
(auf die Würde des Menschen), die Geistesrichtung der natur-
forschenden Philosophen (auf die Unzulänglichkeit der Erscheinung)
genau wieder. Ein Jeder trägt eben seinen Stein herbei zur Auf-
erbauung der neuen Welt, und da der einheitliche Geist einer be-
stimmten Menschenart gebietet, fügt sich alles genau ineinander. Ich
bin also weit entfernt zu leugnen, dass unsere bildende Kunst sich
ungleich mehr von der Dichtkunst (d. h. von dem thatsächlich in
Worten Gedichteten) emanzipiert hat, als das bei den Hellenen der
Fall war; ich glaube sogar, es lässt sich eine zunehmende Bewegung
in diesem Sinne verfolgen, vom 13. Jahrhundert bis zum heutigen
Tage. Doch wird man darum nicht verkennen wollen, dass diese
Kunst ohne Berücksichtigung des allgemeinen Kulturganges nicht ver-
standen werden kann, und man wird einsehen müssen, dass überall
die allgewaltige, freie Dichtkunst tonangebend voranging und den so
vielfach gebundenen Schwestern die Wege ebnete. Ein Franz von
Assisi musste die Natur an sein inbrünstiges Herz drücken und ein
Gottfried von Strassburg sie begeistert schildern, ehe uns die Augen
für sie aufgingen und der Pinsel sie nachzubilden versuchte; ein ge-
waltiges dichterisches Werk war in allen Gauen Europa’s vollbracht —
von Florenz bis London — ehe das Menschenantlitz vom Maler in
seiner Würde erkannt ward und ehe in dessen Werken Persönlichkeit
an Stelle von Typus zu treten begann. Ehe vollends ein Rembrandt
wirken konnte, musste ein Shakespeare gelebt haben. Bei der Allegorie
ist das Verhältnis der bildenden Künste zur Dichtkunst so auffallend,
dass es wohl Keinem entgehen kann. Hier will der Bildner selbständig
dichten. Ich führte in der Einleitung (S. 4) Worte von Michelangelo
an, in denen dieser den Stein und den unbeschriebenen Papierbogen
einander gleichstellt, in jeden käme nur das hinein, was er wolle.
Er dichtet also — wie mit der Feder, so auch mit Meissel und Pinsel.

the kindled marble’s bust may wear
More poesy upon its speaking brow
Than aught less than the Homeric page may bear!

(Byron, Prophecy of Dante.)

Michelangelo’s Erschaffung des Lichtes ist seine eigene Erfindung:
doch würden wir sie nicht verstehen, wenn sie sich nicht an einen
allbekannten Mythus unmittelbar anlehnte. Und seine Figuren: der
Tag
und die Nacht, darüber Lorenzo de’ Medici, was sind sie, wenn

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[957/0436] Kunst. der Mystiker (auf die Natur), die Geistesrichtung der Humanisten (auf die Würde des Menschen), die Geistesrichtung der natur- forschenden Philosophen (auf die Unzulänglichkeit der Erscheinung) genau wieder. Ein Jeder trägt eben seinen Stein herbei zur Auf- erbauung der neuen Welt, und da der einheitliche Geist einer be- stimmten Menschenart gebietet, fügt sich alles genau ineinander. Ich bin also weit entfernt zu leugnen, dass unsere bildende Kunst sich ungleich mehr von der Dichtkunst (d. h. von dem thatsächlich in Worten Gedichteten) emanzipiert hat, als das bei den Hellenen der Fall war; ich glaube sogar, es lässt sich eine zunehmende Bewegung in diesem Sinne verfolgen, vom 13. Jahrhundert bis zum heutigen Tage. Doch wird man darum nicht verkennen wollen, dass diese Kunst ohne Berücksichtigung des allgemeinen Kulturganges nicht ver- standen werden kann, und man wird einsehen müssen, dass überall die allgewaltige, freie Dichtkunst tonangebend voranging und den so vielfach gebundenen Schwestern die Wege ebnete. Ein Franz von Assisi musste die Natur an sein inbrünstiges Herz drücken und ein Gottfried von Strassburg sie begeistert schildern, ehe uns die Augen für sie aufgingen und der Pinsel sie nachzubilden versuchte; ein ge- waltiges dichterisches Werk war in allen Gauen Europa’s vollbracht — von Florenz bis London — ehe das Menschenantlitz vom Maler in seiner Würde erkannt ward und ehe in dessen Werken Persönlichkeit an Stelle von Typus zu treten begann. Ehe vollends ein Rembrandt wirken konnte, musste ein Shakespeare gelebt haben. Bei der Allegorie ist das Verhältnis der bildenden Künste zur Dichtkunst so auffallend, dass es wohl Keinem entgehen kann. Hier will der Bildner selbständig dichten. Ich führte in der Einleitung (S. 4) Worte von Michelangelo an, in denen dieser den Stein und den unbeschriebenen Papierbogen einander gleichstellt, in jeden käme nur das hinein, was er wolle. Er dichtet also — wie mit der Feder, so auch mit Meissel und Pinsel. the kindled marble’s bust may wear More poesy upon its speaking brow Than aught less than the Homeric page may bear! (Byron, Prophecy of Dante.) Michelangelo’s Erschaffung des Lichtes ist seine eigene Erfindung: doch würden wir sie nicht verstehen, wenn sie sich nicht an einen allbekannten Mythus unmittelbar anlehnte. Und seine Figuren: der Tag und die Nacht, darüber Lorenzo de’ Medici, was sind sie, wenn

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 957. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/436>, abgerufen am 27.04.2024.