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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
nicht Dichtungen? Es sind doch nicht bloss zwei nackte Figuren und
eine bekleidete. Was also ist hinzugekommen? Etwas, was, durch die
Macht, das Gemüt unmittelbar zu bewegen, der Tonkunst eben so
nahe verschwistert ist, wie es sich andrerseits der Wortkunst durch
die Anregung von Gedanken verwandt zeigt. Es ist ein heroischer
Versuch, durch die blosse Welt der Erscheinung, ohne Anlehnung
an eine bestehende poetische Fabel, also notgedrungen rein allegorisch,
zu dichten. Das gewaltige Schaffen des Michelangelo kann überhaupt
nur begriffen und beurteilt werden als ein Dichten (genau so wie das
von Rembrandt und von Beethoven); und das viele ästhetische Gezänk
darüber, sowie über die Grenzen des Ausdruckes in den verschiedenen
Künsten lässt sich durch die einfache Einsicht beilegen, dass deutliche
Begriffe nur durch die Sprache vermittelt werden können, woraus
folgt, dass jedes bildnerische Dichten der begrifflichen Bestimmtheit
ermangeln und insofern "musikalisch" wirken muss, um überhaupt
zu wirken, andrerseits aber, dass dieses bildnerische Dichten, da
es des Tones entbehrt, doch wiederum eine begriffliche Deutung
erfordert und insofern "dichterisch" aufgefasst werden muss. Die
"Nacht" ist zwar bloss ein einziges Wort, entrollt aber trotzdem, dank
der magischen Gewalt der Sprache, ein ganzes dichterisches Programm.
Und so sehen wir die bildende Kunst, dort wo sie ihre Selbständigkeit
so weit wie nur immer möglich treibt, beide Hände nach dem ton-
vermählten Dichter ausstrecken: hat sie nicht den Stoff von ihm ent-
lehnt, so muss sie die Seele von ihm empfangen, damit ihr Gebilde lebe.

Es bedarf, glaube ich, keiner weiteren Ausführung, damit Jeder
zugebe, eine Geschichte der Kunst mit Umgehung der Dichtkunst sei
ein genau ebenso vernünftiges Beginnen wie die berühmt-berüchtigte
Aufführung des Hamlet ohne Hamlet. Und doch werde ich gleich
zeigen, dass die kühnsten geschichtsphilosophischen Behauptungen nam-
hafter Gelehrter auf dieser Auffassung beruhen. Wenn Rosenkranz
und Güldenstern in einer Scene die Bühne nicht betreten, da bleibt
sie für unsere Kunsthistoriker leer. Doch, da ich vom "tonvermählten
Dichter" sprach, und da des Dichters Zwillingsschwester, Polyhymnia,
im selben Anathema inbegriffen und ebenfalls nicht für hoffähig ge-
halten wird, so muss ich noch über ihre Kunst ein Wort sagen, ehe
ich zu den geschichtlichen Wahnbildern übergehe.

Dass bei allen Mitgliedern der indoeuropäischen Gruppe in alter
Zeit jede Wortdichtung zugleich Tondichtung war, ist heute allbekannt:
die Zeugnisse über Inder, Hellenen, Germanen kann man in allen

Die Entstehung einer neuen Welt.
nicht Dichtungen? Es sind doch nicht bloss zwei nackte Figuren und
eine bekleidete. Was also ist hinzugekommen? Etwas, was, durch die
Macht, das Gemüt unmittelbar zu bewegen, der Tonkunst eben so
nahe verschwistert ist, wie es sich andrerseits der Wortkunst durch
die Anregung von Gedanken verwandt zeigt. Es ist ein heroischer
Versuch, durch die blosse Welt der Erscheinung, ohne Anlehnung
an eine bestehende poetische Fabel, also notgedrungen rein allegorisch,
zu dichten. Das gewaltige Schaffen des Michelangelo kann überhaupt
nur begriffen und beurteilt werden als ein Dichten (genau so wie das
von Rembrandt und von Beethoven); und das viele ästhetische Gezänk
darüber, sowie über die Grenzen des Ausdruckes in den verschiedenen
Künsten lässt sich durch die einfache Einsicht beilegen, dass deutliche
Begriffe nur durch die Sprache vermittelt werden können, woraus
folgt, dass jedes bildnerische Dichten der begrifflichen Bestimmtheit
ermangeln und insofern »musikalisch« wirken muss, um überhaupt
zu wirken, andrerseits aber, dass dieses bildnerische Dichten, da
es des Tones entbehrt, doch wiederum eine begriffliche Deutung
erfordert und insofern »dichterisch« aufgefasst werden muss. Die
»Nacht« ist zwar bloss ein einziges Wort, entrollt aber trotzdem, dank
der magischen Gewalt der Sprache, ein ganzes dichterisches Programm.
Und so sehen wir die bildende Kunst, dort wo sie ihre Selbständigkeit
so weit wie nur immer möglich treibt, beide Hände nach dem ton-
vermählten Dichter ausstrecken: hat sie nicht den Stoff von ihm ent-
lehnt, so muss sie die Seele von ihm empfangen, damit ihr Gebilde lebe.

Es bedarf, glaube ich, keiner weiteren Ausführung, damit Jeder
zugebe, eine Geschichte der Kunst mit Umgehung der Dichtkunst sei
ein genau ebenso vernünftiges Beginnen wie die berühmt-berüchtigte
Aufführung des Hamlet ohne Hamlet. Und doch werde ich gleich
zeigen, dass die kühnsten geschichtsphilosophischen Behauptungen nam-
hafter Gelehrter auf dieser Auffassung beruhen. Wenn Rosenkranz
und Güldenstern in einer Scene die Bühne nicht betreten, da bleibt
sie für unsere Kunsthistoriker leer. Doch, da ich vom »tonvermählten
Dichter« sprach, und da des Dichters Zwillingsschwester, Polyhymnia,
im selben Anathema inbegriffen und ebenfalls nicht für hoffähig ge-
halten wird, so muss ich noch über ihre Kunst ein Wort sagen, ehe
ich zu den geschichtlichen Wahnbildern übergehe.

Dass bei allen Mitgliedern der indoeuropäischen Gruppe in alter
Zeit jede Wortdichtung zugleich Tondichtung war, ist heute allbekannt:
die Zeugnisse über Inder, Hellenen, Germanen kann man in allen

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[958/0437] Die Entstehung einer neuen Welt. nicht Dichtungen? Es sind doch nicht bloss zwei nackte Figuren und eine bekleidete. Was also ist hinzugekommen? Etwas, was, durch die Macht, das Gemüt unmittelbar zu bewegen, der Tonkunst eben so nahe verschwistert ist, wie es sich andrerseits der Wortkunst durch die Anregung von Gedanken verwandt zeigt. Es ist ein heroischer Versuch, durch die blosse Welt der Erscheinung, ohne Anlehnung an eine bestehende poetische Fabel, also notgedrungen rein allegorisch, zu dichten. Das gewaltige Schaffen des Michelangelo kann überhaupt nur begriffen und beurteilt werden als ein Dichten (genau so wie das von Rembrandt und von Beethoven); und das viele ästhetische Gezänk darüber, sowie über die Grenzen des Ausdruckes in den verschiedenen Künsten lässt sich durch die einfache Einsicht beilegen, dass deutliche Begriffe nur durch die Sprache vermittelt werden können, woraus folgt, dass jedes bildnerische Dichten der begrifflichen Bestimmtheit ermangeln und insofern »musikalisch« wirken muss, um überhaupt zu wirken, andrerseits aber, dass dieses bildnerische Dichten, da es des Tones entbehrt, doch wiederum eine begriffliche Deutung erfordert und insofern »dichterisch« aufgefasst werden muss. Die »Nacht« ist zwar bloss ein einziges Wort, entrollt aber trotzdem, dank der magischen Gewalt der Sprache, ein ganzes dichterisches Programm. Und so sehen wir die bildende Kunst, dort wo sie ihre Selbständigkeit so weit wie nur immer möglich treibt, beide Hände nach dem ton- vermählten Dichter ausstrecken: hat sie nicht den Stoff von ihm ent- lehnt, so muss sie die Seele von ihm empfangen, damit ihr Gebilde lebe. Es bedarf, glaube ich, keiner weiteren Ausführung, damit Jeder zugebe, eine Geschichte der Kunst mit Umgehung der Dichtkunst sei ein genau ebenso vernünftiges Beginnen wie die berühmt-berüchtigte Aufführung des Hamlet ohne Hamlet. Und doch werde ich gleich zeigen, dass die kühnsten geschichtsphilosophischen Behauptungen nam- hafter Gelehrter auf dieser Auffassung beruhen. Wenn Rosenkranz und Güldenstern in einer Scene die Bühne nicht betreten, da bleibt sie für unsere Kunsthistoriker leer. Doch, da ich vom »tonvermählten Dichter« sprach, und da des Dichters Zwillingsschwester, Polyhymnia, im selben Anathema inbegriffen und ebenfalls nicht für hoffähig ge- halten wird, so muss ich noch über ihre Kunst ein Wort sagen, ehe ich zu den geschichtlichen Wahnbildern übergehe. Dass bei allen Mitgliedern der indoeuropäischen Gruppe in alter Zeit jede Wortdichtung zugleich Tondichtung war, ist heute allbekannt: die Zeugnisse über Inder, Hellenen, Germanen kann man in allen

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 958. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/437>, abgerufen am 27.04.2024.