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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
neueren Geschichtswerken finden. Von besonderem Werte für die
Wiedergewinnung eines gesunden Urteils über die hohe kulturelle Be-
deutung der Musik waren in unserem Jahrhundert die gelehrten Arbeiten
von Fortlage, Westphal, Helmholtz, Ambros u. a. über die Musik bei
den Hellenen, aus denen hervorgeht, erstens, dass die Tonkunst von
den Griechen mindestens eben so hoch geschätzt wurde wie die Dicht-
kunst und die bildende Kunst, zweitens, dass Musik und Poesie in der
Zeit höchster Blüte griechischer Kultur so eng mit einander verknüpft
und verwachsen waren, "dass die Geschichte hellenischer Musik not-
wendig auch in das Gebiet hellenischer Dichtkunst hinübergreifen muss
und umgekehrt".1) Was wir heute als hellenische Poesie bewundern,
ist nur ein Torso; denn erst die organisch dazu gehörige Musik "rückte
die Pindarische Ode, die Sophokleische Scene in die volle Beleuchtung
des hellenischen Tages". Nach heutigen Begriffen also, welche die
Dreiteilung, Litteratur, Musik, Kunst eingebürgert und Alles, was ge-
sungen wird, aus Litteratur und noch strenger aus Kunst verbannt
haben, würde die gesamte griechische Poesie zur Musikgeschichte ge-
hören -- weder zur Litteratur, noch zur Kunst! Das giebt zu denken.
Inzwischen hat die Tonkunst eine ganze grosse Entwickelung durchlaufen
(auf die ich in einem anderen Zusammenhang noch zurückkommen
werde), wodurch sie wahrlich nicht an Würde und Selbständigkeit ver-
loren hat, sondern im Gegenteil, immer ausdrucksmächtiger und dadurch
künstlerischer Gestaltung fähiger geworden ist. Hier liegt nicht bloss
Entwickelung vor, wie unsere Musikhistoriker es sich gern zurecht-
konstruieren, sondern vornehmlich der Übergang dieser Kunst aus
hellenischen Händen in germanische. Der Germane -- in allen Zweigen
dieser Völkergruppe -- ist der musikalischeste Mensch auf Erden; Musik
ist seine spezifisch eigene Kunst, diejenige, in welcher er unter allen
Menschen der unvergleichliche Meister ist. In den ältesten Zeiten sahen
wir die Germanen selbst zu Pferd die Harfe nicht aus der Hand geben
und ihre tüchtigsten Könige den Gesangsunterricht persönlich leiten
(S. 318); die alten Goten konnten keine andere Bezeichnung für "lesen"
erfinden, als singen, "da sie keine Art sprachlich gehobener Mitteilung
kannten, die nicht gesungen worden wäre".2) Und so greift denn der
Germane -- sobald er im 13. Jahrhundert zur Selbständigkeit erwacht
und den geisttötenden Bann Rom's nur einigermassen abgeschüttelt

1) Ambros: Geschichte der Musik, 2. Aufl., I, 219.
2) Lamprecht: Deutsche Geschichte, 2. Aufl., I, 174.

Kunst.
neueren Geschichtswerken finden. Von besonderem Werte für die
Wiedergewinnung eines gesunden Urteils über die hohe kulturelle Be-
deutung der Musik waren in unserem Jahrhundert die gelehrten Arbeiten
von Fortlage, Westphal, Helmholtz, Ambros u. a. über die Musik bei
den Hellenen, aus denen hervorgeht, erstens, dass die Tonkunst von
den Griechen mindestens eben so hoch geschätzt wurde wie die Dicht-
kunst und die bildende Kunst, zweitens, dass Musik und Poesie in der
Zeit höchster Blüte griechischer Kultur so eng mit einander verknüpft
und verwachsen waren, »dass die Geschichte hellenischer Musik not-
wendig auch in das Gebiet hellenischer Dichtkunst hinübergreifen muss
und umgekehrt«.1) Was wir heute als hellenische Poesie bewundern,
ist nur ein Torso; denn erst die organisch dazu gehörige Musik »rückte
die Pindarische Ode, die Sophokleische Scene in die volle Beleuchtung
des hellenischen Tages«. Nach heutigen Begriffen also, welche die
Dreiteilung, Litteratur, Musik, Kunst eingebürgert und Alles, was ge-
sungen wird, aus Litteratur und noch strenger aus Kunst verbannt
haben, würde die gesamte griechische Poesie zur Musikgeschichte ge-
hören — weder zur Litteratur, noch zur Kunst! Das giebt zu denken.
Inzwischen hat die Tonkunst eine ganze grosse Entwickelung durchlaufen
(auf die ich in einem anderen Zusammenhang noch zurückkommen
werde), wodurch sie wahrlich nicht an Würde und Selbständigkeit ver-
loren hat, sondern im Gegenteil, immer ausdrucksmächtiger und dadurch
künstlerischer Gestaltung fähiger geworden ist. Hier liegt nicht bloss
Entwickelung vor, wie unsere Musikhistoriker es sich gern zurecht-
konstruieren, sondern vornehmlich der Übergang dieser Kunst aus
hellenischen Händen in germanische. Der Germane — in allen Zweigen
dieser Völkergruppe — ist der musikalischeste Mensch auf Erden; Musik
ist seine spezifisch eigene Kunst, diejenige, in welcher er unter allen
Menschen der unvergleichliche Meister ist. In den ältesten Zeiten sahen
wir die Germanen selbst zu Pferd die Harfe nicht aus der Hand geben
und ihre tüchtigsten Könige den Gesangsunterricht persönlich leiten
(S. 318); die alten Goten konnten keine andere Bezeichnung für »lesen«
erfinden, als singen, »da sie keine Art sprachlich gehobener Mitteilung
kannten, die nicht gesungen worden wäre«.2) Und so greift denn der
Germane — sobald er im 13. Jahrhundert zur Selbständigkeit erwacht
und den geisttötenden Bann Rom’s nur einigermassen abgeschüttelt

1) Ambros: Geschichte der Musik, 2. Aufl., I, 219.
2) Lamprecht: Deutsche Geschichte, 2. Aufl., I, 174.
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[959/0438] Kunst. neueren Geschichtswerken finden. Von besonderem Werte für die Wiedergewinnung eines gesunden Urteils über die hohe kulturelle Be- deutung der Musik waren in unserem Jahrhundert die gelehrten Arbeiten von Fortlage, Westphal, Helmholtz, Ambros u. a. über die Musik bei den Hellenen, aus denen hervorgeht, erstens, dass die Tonkunst von den Griechen mindestens eben so hoch geschätzt wurde wie die Dicht- kunst und die bildende Kunst, zweitens, dass Musik und Poesie in der Zeit höchster Blüte griechischer Kultur so eng mit einander verknüpft und verwachsen waren, »dass die Geschichte hellenischer Musik not- wendig auch in das Gebiet hellenischer Dichtkunst hinübergreifen muss und umgekehrt«. 1) Was wir heute als hellenische Poesie bewundern, ist nur ein Torso; denn erst die organisch dazu gehörige Musik »rückte die Pindarische Ode, die Sophokleische Scene in die volle Beleuchtung des hellenischen Tages«. Nach heutigen Begriffen also, welche die Dreiteilung, Litteratur, Musik, Kunst eingebürgert und Alles, was ge- sungen wird, aus Litteratur und noch strenger aus Kunst verbannt haben, würde die gesamte griechische Poesie zur Musikgeschichte ge- hören — weder zur Litteratur, noch zur Kunst! Das giebt zu denken. Inzwischen hat die Tonkunst eine ganze grosse Entwickelung durchlaufen (auf die ich in einem anderen Zusammenhang noch zurückkommen werde), wodurch sie wahrlich nicht an Würde und Selbständigkeit ver- loren hat, sondern im Gegenteil, immer ausdrucksmächtiger und dadurch künstlerischer Gestaltung fähiger geworden ist. Hier liegt nicht bloss Entwickelung vor, wie unsere Musikhistoriker es sich gern zurecht- konstruieren, sondern vornehmlich der Übergang dieser Kunst aus hellenischen Händen in germanische. Der Germane — in allen Zweigen dieser Völkergruppe — ist der musikalischeste Mensch auf Erden; Musik ist seine spezifisch eigene Kunst, diejenige, in welcher er unter allen Menschen der unvergleichliche Meister ist. In den ältesten Zeiten sahen wir die Germanen selbst zu Pferd die Harfe nicht aus der Hand geben und ihre tüchtigsten Könige den Gesangsunterricht persönlich leiten (S. 318); die alten Goten konnten keine andere Bezeichnung für »lesen« erfinden, als singen, »da sie keine Art sprachlich gehobener Mitteilung kannten, die nicht gesungen worden wäre«. 2) Und so greift denn der Germane — sobald er im 13. Jahrhundert zur Selbständigkeit erwacht und den geisttötenden Bann Rom’s nur einigermassen abgeschüttelt 1) Ambros: Geschichte der Musik, 2. Aufl., I, 219. 2) Lamprecht: Deutsche Geschichte, 2. Aufl., I, 174.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 959. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/438>, abgerufen am 27.04.2024.