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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
afrikanischer Presbyter. Beiden stand Rom gegenüber. Dessen Arme
reichten bis in den fernsten Osten und bis in den entlegensten Norden;
insofern ist auch dieser Begriff "Rom" nicht bloss örtlich zu fassen;
doch hier bestand ein unverrückbares Centrum, die altgeheiligte Stadt
Rom. Eine spezifisch römische Bildung, der hellenischen entgegen-
zustellen, gab es nicht, alle Bildung war in Rom von jeher hellenisch
gewesen und geblieben; von einer irgendwie ausgesprochen individuellen
römischen Seele, der germanischen vergleichbar, konnte noch weniger
die Rede sein, da das altrömische Volk von der Erdoberfläche ent-
schwunden und Rom lediglich der administrative Mittelpunkt eines
nationalitätlosen Gemenges war; wer von "Rom" spricht, redet vom
Völkerchaos. Trotzdem erwies sich Rom nicht als der schwächere
unter den Kämpfenden, sondern als der stärkere. Vollkommen siegte
es allerdings weder im Osten noch im Norden; sichtbarer als vor
tausend Jahren stehen sich noch heute jene drei grossen "Richtungen"
gegenüber; doch ist die griechische Kirche des Schismas in Bezug auf ihr
religiöses Ideal wesentlich eine römisch-katholische, weder eine Tochter
des grossen Origenes noch der Gnostiker, und die Reformation des
Nordens warf ebenfalls das spezifisch Römische nur teilweise ab und
gebar ausserdem erst so spät ihren Martin Luther, dass bedeutende Teile
von Europa, die einige Jahrhunderte früher ihr gehört hätten, da jener
"Norden" bis in das Herz von Spanien, bis an die Thore Rom's sich
erstreckte, ihr nunmehr -- rettungslos romanisiert -- verloren gingen.

Ein Blick auf diese drei Hauptrichtungen, in denen ein Ausbau
des Christentums versucht wurde, wird genügen, um die Natur des
Kampfes der sich auf uns herabgeerbt hat, anschaulich zu machen.

Die bezaubernde Frühblüte des Christentums war eine hellenische.Der "Osten".
Stephan, der erste Märtyrer, ist ein Grieche, Paulus -- der so energisch
auffordert, man solle sich "der jüdischen Fabeln und Altweibermärchen
entschlagen"1) -- ist ein von griechischem Denken durchtränkter Geist,
der offenbar auch nur dann ganz er selbst sich fühlt, sobald er zu
hellenisch Gebildeten redet. Doch gesellte sich bald zu dem sokratischen
Ernst und der platonischen Tiefe der Anschauungen ein andrer echt
griechischer Zug, der zur Abstraktion. Diese hellenische Geistesrichtung
hat die Grundlage der christlichen Dogmatik geschaffen, und nicht
die Grundlage allein, sondern in allen jenen Dingen, welche ich oben
die äussere Mythologie genannt habe -- wie die Lehre von der Drei-

1) I Tim. IV, 7. und Tit. I, 14.

Religion.
afrikanischer Presbyter. Beiden stand Rom gegenüber. Dessen Arme
reichten bis in den fernsten Osten und bis in den entlegensten Norden;
insofern ist auch dieser Begriff »Rom« nicht bloss örtlich zu fassen;
doch hier bestand ein unverrückbares Centrum, die altgeheiligte Stadt
Rom. Eine spezifisch römische Bildung, der hellenischen entgegen-
zustellen, gab es nicht, alle Bildung war in Rom von jeher hellenisch
gewesen und geblieben; von einer irgendwie ausgesprochen individuellen
römischen Seele, der germanischen vergleichbar, konnte noch weniger
die Rede sein, da das altrömische Volk von der Erdoberfläche ent-
schwunden und Rom lediglich der administrative Mittelpunkt eines
nationalitätlosen Gemenges war; wer von »Rom« spricht, redet vom
Völkerchaos. Trotzdem erwies sich Rom nicht als der schwächere
unter den Kämpfenden, sondern als der stärkere. Vollkommen siegte
es allerdings weder im Osten noch im Norden; sichtbarer als vor
tausend Jahren stehen sich noch heute jene drei grossen »Richtungen«
gegenüber; doch ist die griechische Kirche des Schismas in Bezug auf ihr
religiöses Ideal wesentlich eine römisch-katholische, weder eine Tochter
des grossen Origenes noch der Gnostiker, und die Reformation des
Nordens warf ebenfalls das spezifisch Römische nur teilweise ab und
gebar ausserdem erst so spät ihren Martin Luther, dass bedeutende Teile
von Europa, die einige Jahrhunderte früher ihr gehört hätten, da jener
»Norden« bis in das Herz von Spanien, bis an die Thore Rom’s sich
erstreckte, ihr nunmehr — rettungslos romanisiert — verloren gingen.

Ein Blick auf diese drei Hauptrichtungen, in denen ein Ausbau
des Christentums versucht wurde, wird genügen, um die Natur des
Kampfes der sich auf uns herabgeerbt hat, anschaulich zu machen.

Die bezaubernde Frühblüte des Christentums war eine hellenische.Der »Osten«.
Stephan, der erste Märtyrer, ist ein Grieche, Paulus — der so energisch
auffordert, man solle sich »der jüdischen Fabeln und Altweibermärchen
entschlagen«1) — ist ein von griechischem Denken durchtränkter Geist,
der offenbar auch nur dann ganz er selbst sich fühlt, sobald er zu
hellenisch Gebildeten redet. Doch gesellte sich bald zu dem sokratischen
Ernst und der platonischen Tiefe der Anschauungen ein andrer echt
griechischer Zug, der zur Abstraktion. Diese hellenische Geistesrichtung
hat die Grundlage der christlichen Dogmatik geschaffen, und nicht
die Grundlage allein, sondern in allen jenen Dingen, welche ich oben
die äussere Mythologie genannt habe — wie die Lehre von der Drei-

1) I Tim. IV, 7. und Tit. I, 14.
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[601/0080] Religion. afrikanischer Presbyter. Beiden stand Rom gegenüber. Dessen Arme reichten bis in den fernsten Osten und bis in den entlegensten Norden; insofern ist auch dieser Begriff »Rom« nicht bloss örtlich zu fassen; doch hier bestand ein unverrückbares Centrum, die altgeheiligte Stadt Rom. Eine spezifisch römische Bildung, der hellenischen entgegen- zustellen, gab es nicht, alle Bildung war in Rom von jeher hellenisch gewesen und geblieben; von einer irgendwie ausgesprochen individuellen römischen Seele, der germanischen vergleichbar, konnte noch weniger die Rede sein, da das altrömische Volk von der Erdoberfläche ent- schwunden und Rom lediglich der administrative Mittelpunkt eines nationalitätlosen Gemenges war; wer von »Rom« spricht, redet vom Völkerchaos. Trotzdem erwies sich Rom nicht als der schwächere unter den Kämpfenden, sondern als der stärkere. Vollkommen siegte es allerdings weder im Osten noch im Norden; sichtbarer als vor tausend Jahren stehen sich noch heute jene drei grossen »Richtungen« gegenüber; doch ist die griechische Kirche des Schismas in Bezug auf ihr religiöses Ideal wesentlich eine römisch-katholische, weder eine Tochter des grossen Origenes noch der Gnostiker, und die Reformation des Nordens warf ebenfalls das spezifisch Römische nur teilweise ab und gebar ausserdem erst so spät ihren Martin Luther, dass bedeutende Teile von Europa, die einige Jahrhunderte früher ihr gehört hätten, da jener »Norden« bis in das Herz von Spanien, bis an die Thore Rom’s sich erstreckte, ihr nunmehr — rettungslos romanisiert — verloren gingen. Ein Blick auf diese drei Hauptrichtungen, in denen ein Ausbau des Christentums versucht wurde, wird genügen, um die Natur des Kampfes der sich auf uns herabgeerbt hat, anschaulich zu machen. Die bezaubernde Frühblüte des Christentums war eine hellenische. Stephan, der erste Märtyrer, ist ein Grieche, Paulus — der so energisch auffordert, man solle sich »der jüdischen Fabeln und Altweibermärchen entschlagen« 1) — ist ein von griechischem Denken durchtränkter Geist, der offenbar auch nur dann ganz er selbst sich fühlt, sobald er zu hellenisch Gebildeten redet. Doch gesellte sich bald zu dem sokratischen Ernst und der platonischen Tiefe der Anschauungen ein andrer echt griechischer Zug, der zur Abstraktion. Diese hellenische Geistesrichtung hat die Grundlage der christlichen Dogmatik geschaffen, und nicht die Grundlage allein, sondern in allen jenen Dingen, welche ich oben die äussere Mythologie genannt habe — wie die Lehre von der Drei- Der »Osten«. 1) I Tim. IV, 7. und Tit. I, 14.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 601. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/80>, abgerufen am 27.04.2024.