und bestimmte nach himmlischer Constellation das Erdenleben jedes einzelnen Menschen.
Die Griechen lernten diese Lehre in Aegypten kennen und hielten sie für eine Erfindung dieses Landes. Sie fanden dort jeden Monat, jeden Tag und jede Tagesstunde einer bestimmten Gottheit zugetheilt, und nach der Stunde, in welche eines Menschen Geburt fiel, glaubte man, sei sein Leben, sein Cha¬ rakter, sein Ende im Voraus entschieden. Mit peinlicher Sorg¬ falt wurde jedes Zeichen aufgeschrieben und der Erfolg des¬ selben vermerkt, um auf diese Weise ein immer vollständigeres Lehrsystem auszubilden.
Diese Lehren und Künste gingen von einem Volke zum andern; sie erfüllten in höheren und niederen Formen das ganze Morgenland, wo sie aller Verbote des Koran zum Trotze bis auf den heutigen Tag einheimisch geblieben sind. Sie blieben aber nicht auf das Morgenland beschränkt, son¬ dern wurden mit den andern Künsten, Wissenschaften und Gottesdiensten zu den Völkern gebracht, welche am westlichen Meere wohnten.
Für diese Vermittelung waren nun von besonderer Wich¬ tigkeit die Gränzgebiete zwischen beiden Hälften der alten Welt, die Küstenländer Kleinasiens, das halb dem einen, halb dem andern Continente angehört, namentlich die südlichen Küstenländer, welche den Wohnsitzen der semitischen Völker am nächsten waren und selbst semitische Bevölkerung aufnahmen, die Länder am Südabhange des Taurus, Cilicien, Pam¬ phylien, Lycien, Karien, so wie die Inselländer Cypern und Kreta. Das sind die Gegenden, wo die beiden für alle Ge¬ schichtsentwickelung wichtigsten Völkergeschlechter zusammen¬ trafen, wo das schwärmerische Naturgefühl und religiöse Ge¬ müthsleben des einen mit dem klaren, nach Maß und Ord¬ nung ringenden Geiste des andern sich durchdrang und aus diesem anregenden Verkehre zwischen semitischer und arischer Volksthümlichkeit ein reiches Culturleben sich entwickelte.
Die Griechen wußten, was sie diesen Gegenden verdankten; sie kannten sie als die Heimath wichtiger Gottesdienste, als
Die Unfreiheit der alten Welt.
und beſtimmte nach himmliſcher Conſtellation das Erdenleben jedes einzelnen Menſchen.
Die Griechen lernten dieſe Lehre in Aegypten kennen und hielten ſie für eine Erfindung dieſes Landes. Sie fanden dort jeden Monat, jeden Tag und jede Tagesſtunde einer beſtimmten Gottheit zugetheilt, und nach der Stunde, in welche eines Menſchen Geburt fiel, glaubte man, ſei ſein Leben, ſein Cha¬ rakter, ſein Ende im Voraus entſchieden. Mit peinlicher Sorg¬ falt wurde jedes Zeichen aufgeſchrieben und der Erfolg des¬ ſelben vermerkt, um auf dieſe Weiſe ein immer vollſtändigeres Lehrſyſtem auszubilden.
Dieſe Lehren und Künſte gingen von einem Volke zum andern; ſie erfüllten in höheren und niederen Formen das ganze Morgenland, wo ſie aller Verbote des Koran zum Trotze bis auf den heutigen Tag einheimiſch geblieben ſind. Sie blieben aber nicht auf das Morgenland beſchränkt, ſon¬ dern wurden mit den andern Künſten, Wiſſenſchaften und Gottesdienſten zu den Völkern gebracht, welche am weſtlichen Meere wohnten.
Für dieſe Vermittelung waren nun von beſonderer Wich¬ tigkeit die Gränzgebiete zwiſchen beiden Hälften der alten Welt, die Küſtenländer Kleinaſiens, das halb dem einen, halb dem andern Continente angehört, namentlich die ſüdlichen Küſtenländer, welche den Wohnſitzen der ſemitiſchen Völker am nächſten waren und ſelbſt ſemitiſche Bevölkerung aufnahmen, die Länder am Südabhange des Taurus, Cilicien, Pam¬ phylien, Lycien, Karien, ſo wie die Inſelländer Cypern und Kreta. Das ſind die Gegenden, wo die beiden für alle Ge¬ ſchichtsentwickelung wichtigſten Völkergeſchlechter zuſammen¬ trafen, wo das ſchwärmeriſche Naturgefühl und religiöſe Ge¬ müthsleben des einen mit dem klaren, nach Maß und Ord¬ nung ringenden Geiſte des andern ſich durchdrang und aus dieſem anregenden Verkehre zwiſchen ſemitiſcher und ariſcher Volksthümlichkeit ein reiches Culturleben ſich entwickelte.
Die Griechen wußten, was ſie dieſen Gegenden verdankten; ſie kannten ſie als die Heimath wichtiger Gottesdienſte, als
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0183"n="167"/><fwplace="top"type="header">Die Unfreiheit der alten Welt.<lb/></fw>und beſtimmte nach himmliſcher Conſtellation das Erdenleben<lb/>
jedes einzelnen Menſchen.</p><lb/><p>Die Griechen lernten dieſe Lehre in Aegypten kennen und<lb/>
hielten ſie für eine Erfindung dieſes Landes. Sie fanden dort<lb/>
jeden Monat, jeden Tag und jede Tagesſtunde einer beſtimmten<lb/>
Gottheit zugetheilt, und nach der Stunde, in welche eines<lb/>
Menſchen Geburt fiel, glaubte man, ſei ſein Leben, ſein Cha¬<lb/>
rakter, ſein Ende im Voraus entſchieden. Mit peinlicher Sorg¬<lb/>
falt wurde jedes Zeichen aufgeſchrieben und der Erfolg des¬<lb/>ſelben vermerkt, um auf dieſe Weiſe ein immer vollſtändigeres<lb/>
Lehrſyſtem auszubilden.</p><lb/><p>Dieſe Lehren und Künſte gingen von einem Volke zum<lb/>
andern; ſie erfüllten in höheren und niederen Formen das<lb/>
ganze Morgenland, wo ſie aller Verbote des Koran zum<lb/>
Trotze bis auf den heutigen Tag einheimiſch geblieben ſind.<lb/>
Sie blieben aber nicht auf das Morgenland beſchränkt, ſon¬<lb/>
dern wurden mit den andern Künſten, Wiſſenſchaften und<lb/>
Gottesdienſten zu den Völkern gebracht, welche am weſtlichen<lb/>
Meere wohnten.</p><lb/><p>Für dieſe Vermittelung waren nun von beſonderer Wich¬<lb/>
tigkeit die Gränzgebiete zwiſchen beiden Hälften der alten<lb/>
Welt, die Küſtenländer Kleinaſiens, das halb dem einen, halb<lb/>
dem andern Continente angehört, namentlich die ſüdlichen<lb/>
Küſtenländer, welche den Wohnſitzen der ſemitiſchen Völker am<lb/>
nächſten waren und ſelbſt ſemitiſche Bevölkerung aufnahmen,<lb/>
die Länder am Südabhange des Taurus, Cilicien, Pam¬<lb/>
phylien, Lycien, Karien, ſo wie die Inſelländer Cypern und<lb/>
Kreta. Das ſind die Gegenden, wo die beiden für alle Ge¬<lb/>ſchichtsentwickelung wichtigſten Völkergeſchlechter zuſammen¬<lb/>
trafen, wo das ſchwärmeriſche Naturgefühl und religiöſe Ge¬<lb/>
müthsleben des einen mit dem klaren, nach Maß und Ord¬<lb/>
nung ringenden Geiſte des andern ſich durchdrang und aus<lb/>
dieſem anregenden Verkehre zwiſchen ſemitiſcher und ariſcher<lb/>
Volksthümlichkeit ein reiches Culturleben ſich entwickelte.</p><lb/><p>Die Griechen wußten, was ſie dieſen Gegenden verdankten;<lb/>ſie kannten ſie als die Heimath wichtiger Gottesdienſte, als<lb/></p></div></body></text></TEI>
[167/0183]
Die Unfreiheit der alten Welt.
und beſtimmte nach himmliſcher Conſtellation das Erdenleben
jedes einzelnen Menſchen.
Die Griechen lernten dieſe Lehre in Aegypten kennen und
hielten ſie für eine Erfindung dieſes Landes. Sie fanden dort
jeden Monat, jeden Tag und jede Tagesſtunde einer beſtimmten
Gottheit zugetheilt, und nach der Stunde, in welche eines
Menſchen Geburt fiel, glaubte man, ſei ſein Leben, ſein Cha¬
rakter, ſein Ende im Voraus entſchieden. Mit peinlicher Sorg¬
falt wurde jedes Zeichen aufgeſchrieben und der Erfolg des¬
ſelben vermerkt, um auf dieſe Weiſe ein immer vollſtändigeres
Lehrſyſtem auszubilden.
Dieſe Lehren und Künſte gingen von einem Volke zum
andern; ſie erfüllten in höheren und niederen Formen das
ganze Morgenland, wo ſie aller Verbote des Koran zum
Trotze bis auf den heutigen Tag einheimiſch geblieben ſind.
Sie blieben aber nicht auf das Morgenland beſchränkt, ſon¬
dern wurden mit den andern Künſten, Wiſſenſchaften und
Gottesdienſten zu den Völkern gebracht, welche am weſtlichen
Meere wohnten.
Für dieſe Vermittelung waren nun von beſonderer Wich¬
tigkeit die Gränzgebiete zwiſchen beiden Hälften der alten
Welt, die Küſtenländer Kleinaſiens, das halb dem einen, halb
dem andern Continente angehört, namentlich die ſüdlichen
Küſtenländer, welche den Wohnſitzen der ſemitiſchen Völker am
nächſten waren und ſelbſt ſemitiſche Bevölkerung aufnahmen,
die Länder am Südabhange des Taurus, Cilicien, Pam¬
phylien, Lycien, Karien, ſo wie die Inſelländer Cypern und
Kreta. Das ſind die Gegenden, wo die beiden für alle Ge¬
ſchichtsentwickelung wichtigſten Völkergeſchlechter zuſammen¬
trafen, wo das ſchwärmeriſche Naturgefühl und religiöſe Ge¬
müthsleben des einen mit dem klaren, nach Maß und Ord¬
nung ringenden Geiſte des andern ſich durchdrang und aus
dieſem anregenden Verkehre zwiſchen ſemitiſcher und ariſcher
Volksthümlichkeit ein reiches Culturleben ſich entwickelte.
Die Griechen wußten, was ſie dieſen Gegenden verdankten;
ſie kannten ſie als die Heimath wichtiger Gottesdienſte, als
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/183>, abgerufen am 10.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.