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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871.

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cher die hellen Angsttropfen perlten. "Helfen Sie
mir ein Bischen, Fräulein Hardine," bettelte sie
endlich.

Das that ich nun freilich nicht. Im Gegentheil,
ich entfernte mich, hoffend, daß es in der Einsamkeit
besser gelingen werde. Aber der Nachmittag verlief
über dem sauren Werk, und am Abend erst wurde
das Blatt zur Durchsicht in meine Hand gelegt.
"Fräulein Hardine sagt dies, Fräulein Hardine thut
das," so lautete es Satz für Satz. Aus dem eigenen
Herzen und Leben kein Wort. Der wunderlichste erste
Liebesbrief einer Braut! Indessen die Kleine dankte
Gott, daß er fertig war, siegelte rasch mit einem
Sechser und trug das Schriftstück gleich noch nach
der Post.

Der Abschiedsmorgen brach an. Eine Reise, und
wäre es nur auf zwölf Meilen, eine erste Reise zu¬
mal, galt uns Kleinstädtern anno Neunzig noch für
einen halben Tod. Man schien sich so unerreichbar,
wenn man sich nicht mehr mit Händen greifen konnte,
man mochte gestorben und verdorben sein, ehe nur
ein Hülferuf zu dem Verlassenen gedrungen war.

Wir saßen bei Kerzenlicht um den Frühstücks¬
tisch; Keiner berührte einen Bissen, Keiner redete ein

cher die hellen Angſttropfen perlten. „Helfen Sie
mir ein Bischen, Fräulein Hardine,“ bettelte ſie
endlich.

Das that ich nun freilich nicht. Im Gegentheil,
ich entfernte mich, hoffend, daß es in der Einſamkeit
beſſer gelingen werde. Aber der Nachmittag verlief
über dem ſauren Werk, und am Abend erſt wurde
das Blatt zur Durchſicht in meine Hand gelegt.
„Fräulein Hardine ſagt dies, Fräulein Hardine thut
das,“ ſo lautete es Satz für Satz. Aus dem eigenen
Herzen und Leben kein Wort. Der wunderlichſte erſte
Liebesbrief einer Braut! Indeſſen die Kleine dankte
Gott, daß er fertig war, ſiegelte raſch mit einem
Sechſer und trug das Schriftſtück gleich noch nach
der Poſt.

Der Abſchiedsmorgen brach an. Eine Reiſe, und
wäre es nur auf zwölf Meilen, eine erſte Reiſe zu¬
mal, galt uns Kleinſtädtern anno Neunzig noch für
einen halben Tod. Man ſchien ſich ſo unerreichbar,
wenn man ſich nicht mehr mit Händen greifen konnte,
man mochte geſtorben und verdorben ſein, ehe nur
ein Hülferuf zu dem Verlaſſenen gedrungen war.

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[155/0162] cher die hellen Angſttropfen perlten. „Helfen Sie mir ein Bischen, Fräulein Hardine,“ bettelte ſie endlich. Das that ich nun freilich nicht. Im Gegentheil, ich entfernte mich, hoffend, daß es in der Einſamkeit beſſer gelingen werde. Aber der Nachmittag verlief über dem ſauren Werk, und am Abend erſt wurde das Blatt zur Durchſicht in meine Hand gelegt. „Fräulein Hardine ſagt dies, Fräulein Hardine thut das,“ ſo lautete es Satz für Satz. Aus dem eigenen Herzen und Leben kein Wort. Der wunderlichſte erſte Liebesbrief einer Braut! Indeſſen die Kleine dankte Gott, daß er fertig war, ſiegelte raſch mit einem Sechſer und trug das Schriftſtück gleich noch nach der Poſt. Der Abſchiedsmorgen brach an. Eine Reiſe, und wäre es nur auf zwölf Meilen, eine erſte Reiſe zu¬ mal, galt uns Kleinſtädtern anno Neunzig noch für einen halben Tod. Man ſchien ſich ſo unerreichbar, wenn man ſich nicht mehr mit Händen greifen konnte, man mochte geſtorben und verdorben ſein, ehe nur ein Hülferuf zu dem Verlaſſenen gedrungen war. Wir ſaßen bei Kerzenlicht um den Frühſtücks¬ tiſch; Keiner berührte einen Biſſen, Keiner redete ein

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/162>, abgerufen am 30.04.2024.