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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871.

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Wort. Mama und ich, wir schluckten unsere Thrä¬
nen tapfer hinunter, der ehrliche Vater aber ließ sie
frei laufen und die kleine Dorl schluchzte laut. Der
Tag begann zu dämmern, die einspännige Chaise fuhr
vor; der eisenbeschlagene Seehundskoffer wurde auf¬
gebunden, Kisten und Kober mit Mundvorräthen ge¬
füllt, thürmten sich, als ging' es rund um die Welt.
Vor den Thüren lugten die Nachbarn in Pantoffeln
und Nachtmützen; Mägde, die Wasserbütten auf dem
Rücken oder den Semmelkorb am Arm, Kinder, die
den Betten im Schlafkittelchen entsprungen waren,
drängten sich vor unserem Thor. Alle wollten Ritt¬
meisters Fräulein, das zu einer uralten, steinreichen
Erbtante auf die Reise ging, in die Kutsche steigen
sehen.

Endlich erschien auch Muhme Justine mit aller
Würde einer Duenna, in blendendweißer Flügelhaube
und der Festschürze von grasgrünem Taft. Schon
saß ich im Wagen und hatte sie den Fuß auf den
Tritt gesetzt, als die Betglocke anschlug. An keinem
Morgen, Mittag oder Abend hörte die Muhme die
feierlichen drei Schläge, ohne zu einem Vaterunser
auf die Kniee zu sinken. Nur auf der Straße be¬
gnügte sie sich dreimal mit der Verbeugung, mit wel¬

Wort. Mama und ich, wir ſchluckten unſere Thrä¬
nen tapfer hinunter, der ehrliche Vater aber ließ ſie
frei laufen und die kleine Dorl ſchluchzte laut. Der
Tag begann zu dämmern, die einſpännige Chaiſe fuhr
vor; der eiſenbeſchlagene Seehundskoffer wurde auf¬
gebunden, Kiſten und Kober mit Mundvorräthen ge¬
füllt, thürmten ſich, als ging' es rund um die Welt.
Vor den Thüren lugten die Nachbarn in Pantoffeln
und Nachtmützen; Mägde, die Waſſerbütten auf dem
Rücken oder den Semmelkorb am Arm, Kinder, die
den Betten im Schlafkittelchen entſprungen waren,
drängten ſich vor unſerem Thor. Alle wollten Ritt¬
meiſters Fräulein, das zu einer uralten, ſteinreichen
Erbtante auf die Reiſe ging, in die Kutſche ſteigen
ſehen.

Endlich erſchien auch Muhme Juſtine mit aller
Würde einer Duenna, in blendendweißer Flügelhaube
und der Feſtſchürze von grasgrünem Taft. Schon
ſaß ich im Wagen und hatte ſie den Fuß auf den
Tritt geſetzt, als die Betglocke anſchlug. An keinem
Morgen, Mittag oder Abend hörte die Muhme die
feierlichen drei Schläge, ohne zu einem Vaterunſer
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gnügte ſie ſich dreimal mit der Verbeugung, mit wel¬

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[156/0163] Wort. Mama und ich, wir ſchluckten unſere Thrä¬ nen tapfer hinunter, der ehrliche Vater aber ließ ſie frei laufen und die kleine Dorl ſchluchzte laut. Der Tag begann zu dämmern, die einſpännige Chaiſe fuhr vor; der eiſenbeſchlagene Seehundskoffer wurde auf¬ gebunden, Kiſten und Kober mit Mundvorräthen ge¬ füllt, thürmten ſich, als ging' es rund um die Welt. Vor den Thüren lugten die Nachbarn in Pantoffeln und Nachtmützen; Mägde, die Waſſerbütten auf dem Rücken oder den Semmelkorb am Arm, Kinder, die den Betten im Schlafkittelchen entſprungen waren, drängten ſich vor unſerem Thor. Alle wollten Ritt¬ meiſters Fräulein, das zu einer uralten, ſteinreichen Erbtante auf die Reiſe ging, in die Kutſche ſteigen ſehen. Endlich erſchien auch Muhme Juſtine mit aller Würde einer Duenna, in blendendweißer Flügelhaube und der Feſtſchürze von grasgrünem Taft. Schon ſaß ich im Wagen und hatte ſie den Fuß auf den Tritt geſetzt, als die Betglocke anſchlug. An keinem Morgen, Mittag oder Abend hörte die Muhme die feierlichen drei Schläge, ohne zu einem Vaterunſer auf die Kniee zu ſinken. Nur auf der Straße be¬ gnügte ſie ſich dreimal mit der Verbeugung, mit wel¬

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/163>, abgerufen am 30.04.2024.