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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871.

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haut bei dem Anblick, der sich nach und nach mir
gegenüber als eine Menschengestalt entwickelte. O du
weiser Prediger der Vergänglichkeit, ja was ist der
Mensch in seiner Herrlichkeit! Eberhardine von Recken¬
burg, einst an dem schönheitskundigsten Hofe von
Deutschland als Schönheitsgöttin gefeiert und heute
wie ein Sprenkel zusammengekrümmt, mühsam am
Krückstocke keuchend, bebend vor innerlichem Frost wie
ein Laub im Novembersturm, das kaum noch hand¬
große Gesicht in tausend kleine Fältchen eingeschrumpft,
gleich einem vergilbten Pergament aus der Klosterzeit.

Und dennoch! Alles was jemals unter der an¬
muthsvollen Hülle gelebt hatte, das lebte noch heute
unter der runzligen Haut, und die schwarzen Augen
funkelten noch heute so muthig, scharf und klug, so
heimlich passionirt, wie sie in den Tagen des starken
August gefunkelt haben mögen. Ein einziger Blitz
dieser durchdringenden Augen und der heimlichste Win¬
kel, die verborgenste Falte in des armen Pathen¬
kindes Seele waren blosgelegt, insofern nämlich Win¬
kel und Falten in besagter Seele bloszulegen gewesen
wären.

Die kleine, unheimliche Gestalt war schwarz ge¬
kleidet vom Kopf zur Zeh, nach einer Facon, die wir

haut bei dem Anblick, der ſich nach und nach mir
gegenüber als eine Menſchengeſtalt entwickelte. O du
weiſer Prediger der Vergänglichkeit, ja was iſt der
Menſch in ſeiner Herrlichkeit! Eberhardine von Recken¬
burg, einſt an dem ſchönheitskundigſten Hofe von
Deutſchland als Schönheitsgöttin gefeiert und heute
wie ein Sprenkel zuſammengekrümmt, mühſam am
Krückſtocke keuchend, bebend vor innerlichem Froſt wie
ein Laub im Novemberſturm, das kaum noch hand¬
große Geſicht in tauſend kleine Fältchen eingeſchrumpft,
gleich einem vergilbten Pergament aus der Kloſterzeit.

Und dennoch! Alles was jemals unter der an¬
muthsvollen Hülle gelebt hatte, das lebte noch heute
unter der runzligen Haut, und die ſchwarzen Augen
funkelten noch heute ſo muthig, ſcharf und klug, ſo
heimlich paſſionirt, wie ſie in den Tagen des ſtarken
Auguſt gefunkelt haben mögen. Ein einziger Blitz
dieſer durchdringenden Augen und der heimlichſte Win¬
kel, die verborgenſte Falte in des armen Pathen¬
kindes Seele waren blosgelegt, inſofern nämlich Win¬
kel und Falten in beſagter Seele bloszulegen geweſen
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[183/0190] haut bei dem Anblick, der ſich nach und nach mir gegenüber als eine Menſchengeſtalt entwickelte. O du weiſer Prediger der Vergänglichkeit, ja was iſt der Menſch in ſeiner Herrlichkeit! Eberhardine von Recken¬ burg, einſt an dem ſchönheitskundigſten Hofe von Deutſchland als Schönheitsgöttin gefeiert und heute wie ein Sprenkel zuſammengekrümmt, mühſam am Krückſtocke keuchend, bebend vor innerlichem Froſt wie ein Laub im Novemberſturm, das kaum noch hand¬ große Geſicht in tauſend kleine Fältchen eingeſchrumpft, gleich einem vergilbten Pergament aus der Kloſterzeit. Und dennoch! Alles was jemals unter der an¬ muthsvollen Hülle gelebt hatte, das lebte noch heute unter der runzligen Haut, und die ſchwarzen Augen funkelten noch heute ſo muthig, ſcharf und klug, ſo heimlich paſſionirt, wie ſie in den Tagen des ſtarken Auguſt gefunkelt haben mögen. Ein einziger Blitz dieſer durchdringenden Augen und der heimlichſte Win¬ kel, die verborgenſte Falte in des armen Pathen¬ kindes Seele waren blosgelegt, inſofern nämlich Win¬ kel und Falten in beſagter Seele bloszulegen geweſen wären. Die kleine, unheimliche Geſtalt war ſchwarz ge¬ kleidet vom Kopf zur Zeh, nach einer Façon, die wir

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/190>, abgerufen am 30.04.2024.