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Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895.

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weiblichkeit erhoben worden, und die Rücksicht auf die Weib-
lichkeit hat noch keinen Mann verhindert, Frauen in die Stein-
brüche und Bergwerke zu schicken. Jch kann es freilich nicht
einsehen, daß eine Frau, die ihren Zettel in die Wahlurne
wirft, die "Weiblichkeit" mehr gefährdet, als eine andere, die
Steine karrt. Und ich kann es nicht begreifen, daß der Anblick
einer Frau mit dem Kinde unter dem Herzen im Wahllokal
empörender sein soll, als der Anblick einer solchen Frau in den
Bleifabriken. Die Mutter sorgt für das Wohl ihres
Kindes, die einen Vertreter für die gesetzgebende Körper-
schaft wählt, aber die Mutter, die gezwungen ist, die Giftluft
der Fabrik einzuatmen, mordet ihr Kind oder opfert es einem
langen Siechtum. Auch weiß ich nicht, was mehr dem Begriff
der Weiblichkeit entspricht: an der Seite des Gatten, des Vaters
oder des Bruders in einfachem Straßenanzug zum Wahllokal
zu gehen, um den Zettel in die Urne zu werfen, oder in Ball-
toilette aus dem Arm eines fremden Herrn in den eines andern
zu fliegen. Und was ist der Würde einer Frau mehr an-
gemessen: wenn sie in Gesellschaft gleichgesinnter Freundinnen
den guten Ruf des Nachbarn zerpflückt, oder wenn sie mit
ernsten Frauen und Männern berät, wie die Wohlfahrt Aller
zu fördern ist.

Die Berufung auf ihre Pflichten als Hausfrau, als
Mutter und Weib entlastet die deutsche Frau also nicht von
dem Vorwurf, daß sie ihre sozialen Pflichten vernachlässigt. Die
Berufung auf ihre Arbeit im Dienste der Wohlthätigkeit thut es
ebensowenig. Gewiß kann durch Wohlthäigkeit in besonderen
Fällen geholfen werden, aber daß die Wohlthätigkeit dem Übel
nicht an die Wurzel geht, beweist das ständige Wachsen des
Elends trotz all der zahllosen Wohlthätigkeits-Anstalten und
-Vereine. Was die Wohlthätigkeit dem Einzelnen genützt hat,
das hat sie nicht selten dem Ganzen geschadet: sie hat die
Gebenden häufig hochmütig, und die Nehmenden, welche sich
einmal an das Almosenempfangen gewöhnt haben, vielfach so
demütig gemacht, daß jede Spur von Würde und Selbstbewußt-
sein ihnen abhanden gekommen ist und sie zu Schmarotzern

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weiblichkeit erhoben worden, und die Rücksicht auf die Weib-
lichkeit hat noch keinen Mann verhindert, Frauen in die Stein-
brüche und Bergwerke zu schicken. Jch kann es freilich nicht
einsehen, daß eine Frau, die ihren Zettel in die Wahlurne
wirft, die „Weiblichkeit‟ mehr gefährdet, als eine andere, die
Steine karrt. Und ich kann es nicht begreifen, daß der Anblick
einer Frau mit dem Kinde unter dem Herzen im Wahllokal
empörender sein soll, als der Anblick einer solchen Frau in den
Bleifabriken. Die Mutter sorgt für das Wohl ihres
Kindes, die einen Vertreter für die gesetzgebende Körper-
schaft wählt, aber die Mutter, die gezwungen ist, die Giftluft
der Fabrik einzuatmen, mordet ihr Kind oder opfert es einem
langen Siechtum. Auch weiß ich nicht, was mehr dem Begriff
der Weiblichkeit entspricht: an der Seite des Gatten, des Vaters
oder des Bruders in einfachem Straßenanzug zum Wahllokal
zu gehen, um den Zettel in die Urne zu werfen, oder in Ball-
toilette aus dem Arm eines fremden Herrn in den eines andern
zu fliegen. Und was ist der Würde einer Frau mehr an-
gemessen: wenn sie in Gesellschaft gleichgesinnter Freundinnen
den guten Ruf des Nachbarn zerpflückt, oder wenn sie mit
ernsten Frauen und Männern berät, wie die Wohlfahrt Aller
zu fördern ist.

Die Berufung auf ihre Pflichten als Hausfrau, als
Mutter und Weib entlastet die deutsche Frau also nicht von
dem Vorwurf, daß sie ihre sozialen Pflichten vernachlässigt. Die
Berufung auf ihre Arbeit im Dienste der Wohlthätigkeit thut es
ebensowenig. Gewiß kann durch Wohlthäigkeit in besonderen
Fällen geholfen werden, aber daß die Wohlthätigkeit dem Übel
nicht an die Wurzel geht, beweist das ständige Wachsen des
Elends trotz all der zahllosen Wohlthätigkeits-Anstalten und
-Vereine. Was die Wohlthätigkeit dem Einzelnen genützt hat,
das hat sie nicht selten dem Ganzen geschadet: sie hat die
Gebenden häufig hochmütig, und die Nehmenden, welche sich
einmal an das Almosenempfangen gewöhnt haben, vielfach so
demütig gemacht, daß jede Spur von Würde und Selbstbewußt-
sein ihnen abhanden gekommen ist und sie zu Schmarotzern

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[19/0020] weiblichkeit erhoben worden, und die Rücksicht auf die Weib- lichkeit hat noch keinen Mann verhindert, Frauen in die Stein- brüche und Bergwerke zu schicken. Jch kann es freilich nicht einsehen, daß eine Frau, die ihren Zettel in die Wahlurne wirft, die „Weiblichkeit‟ mehr gefährdet, als eine andere, die Steine karrt. Und ich kann es nicht begreifen, daß der Anblick einer Frau mit dem Kinde unter dem Herzen im Wahllokal empörender sein soll, als der Anblick einer solchen Frau in den Bleifabriken. Die Mutter sorgt für das Wohl ihres Kindes, die einen Vertreter für die gesetzgebende Körper- schaft wählt, aber die Mutter, die gezwungen ist, die Giftluft der Fabrik einzuatmen, mordet ihr Kind oder opfert es einem langen Siechtum. Auch weiß ich nicht, was mehr dem Begriff der Weiblichkeit entspricht: an der Seite des Gatten, des Vaters oder des Bruders in einfachem Straßenanzug zum Wahllokal zu gehen, um den Zettel in die Urne zu werfen, oder in Ball- toilette aus dem Arm eines fremden Herrn in den eines andern zu fliegen. Und was ist der Würde einer Frau mehr an- gemessen: wenn sie in Gesellschaft gleichgesinnter Freundinnen den guten Ruf des Nachbarn zerpflückt, oder wenn sie mit ernsten Frauen und Männern berät, wie die Wohlfahrt Aller zu fördern ist. Die Berufung auf ihre Pflichten als Hausfrau, als Mutter und Weib entlastet die deutsche Frau also nicht von dem Vorwurf, daß sie ihre sozialen Pflichten vernachlässigt. Die Berufung auf ihre Arbeit im Dienste der Wohlthätigkeit thut es ebensowenig. Gewiß kann durch Wohlthäigkeit in besonderen Fällen geholfen werden, aber daß die Wohlthätigkeit dem Übel nicht an die Wurzel geht, beweist das ständige Wachsen des Elends trotz all der zahllosen Wohlthätigkeits-Anstalten und -Vereine. Was die Wohlthätigkeit dem Einzelnen genützt hat, das hat sie nicht selten dem Ganzen geschadet: sie hat die Gebenden häufig hochmütig, und die Nehmenden, welche sich einmal an das Almosenempfangen gewöhnt haben, vielfach so demütig gemacht, daß jede Spur von Würde und Selbstbewußt- sein ihnen abhanden gekommen ist und sie zu Schmarotzern 2*

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Zitationshilfe: Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gizycki_buergerpflicht_1895/20>, abgerufen am 26.04.2024.