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Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895.

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herabgesunken sind, die aus ihrer Armut ein einträgliches Ge-
werbe machen. Für die wohlthätige Frau ist es kein allzu
großes Opfer, so und so viel Vereine durch ein paar Mark zu
unterstützen, oder einige arme Familien aufzusuchen, die sie per-
sönlich aus der Not zu befreien sucht. Sie beruhigt damit ihr
Gewissen, während sie doch nur dann ein Recht zu einem
ruhigen Gewissen hat, wenn sie neben der momentanen Hilfe
für Einzelne den Blick auf das große Elend Aller richtet und
auf Mittel und Wege sinnt, seine Ursachen zu beseitigen.
Diese Art der Pflichterfüllung ist freilich weit schwerer als
die, welche die Wohlthätigkeit von ihr fordert; sie verlangt
ernste Studien, sie läßt für Diners und Bälle wenig Zeit
übrig, und sie findet in der guten Gesellschaft keine Aner-
kennung.

Oder sollte es dieser Anstrengungen seitens der Frauen gar
nicht bedürfen, weil die deutschen Männer ihnen nichts mehr zu
thun übrig lassen? Sollte für die Wohlfahrt Aller unter dem
deutschen Reichsadler besser gesorgt sein, als unter dem englischen
Löwen, dem Sternenbanner Amerikas?

Trockene Zahlen geben die Antwort darauf. Jn England
giebt es vier Millionen, in Amerika drei Millionen und in
Deutschland -- 5500000 für ihren Erwerb arbeitende Frauen.
Jn Sachsen sind 60 Prozent aller in Fabriken thätigen Personen
Frauen. Jn England und Amerika sind weibliche Fabrik-
Jnspektoren angestellt, während Deutschland, das von allen
Staaten die meisten weiblichen Arbeiter beschäftigt, aus ritter-
licher Rücksicht auf das schwache Geschlecht und auf die heilige
Sitte keine solche Neuerungen einführt.

Unsere Klassenmoral hat uns zwar für die Not der "höheren
Tochter" die Augen geöffnet, die darin besteht, daß sie keinen Mann
bekommt, der sie ernähren kann, sondern daß sie sich selbst ernähren
muß, aber an der Not der Arbeiterin, die zwar ihren "natür-
lichen" Beruf, Gattin und Mutter zu sein, erfüllt, aber sich
trotzdem, ja oft gerade deswegen von früh bis spät in der
Schwindsuchtsatmosphäre der Fabrikräume abarbeiten muß --
daran gehen wir blinden Auges vorüber.

herabgesunken sind, die aus ihrer Armut ein einträgliches Ge-
werbe machen. Für die wohlthätige Frau ist es kein allzu
großes Opfer, so und so viel Vereine durch ein paar Mark zu
unterstützen, oder einige arme Familien aufzusuchen, die sie per-
sönlich aus der Not zu befreien sucht. Sie beruhigt damit ihr
Gewissen, während sie doch nur dann ein Recht zu einem
ruhigen Gewissen hat, wenn sie neben der momentanen Hilfe
für Einzelne den Blick auf das große Elend Aller richtet und
auf Mittel und Wege sinnt, seine Ursachen zu beseitigen.
Diese Art der Pflichterfüllung ist freilich weit schwerer als
die, welche die Wohlthätigkeit von ihr fordert; sie verlangt
ernste Studien, sie läßt für Diners und Bälle wenig Zeit
übrig, und sie findet in der guten Gesellschaft keine Aner-
kennung.

Oder sollte es dieser Anstrengungen seitens der Frauen gar
nicht bedürfen, weil die deutschen Männer ihnen nichts mehr zu
thun übrig lassen? Sollte für die Wohlfahrt Aller unter dem
deutschen Reichsadler besser gesorgt sein, als unter dem englischen
Löwen, dem Sternenbanner Amerikas?

Trockene Zahlen geben die Antwort darauf. Jn England
giebt es vier Millionen, in Amerika drei Millionen und in
Deutschland — 5500000 für ihren Erwerb arbeitende Frauen.
Jn Sachsen sind 60 Prozent aller in Fabriken thätigen Personen
Frauen. Jn England und Amerika sind weibliche Fabrik-
Jnspektoren angestellt, während Deutschland, das von allen
Staaten die meisten weiblichen Arbeiter beschäftigt, aus ritter-
licher Rücksicht auf das schwache Geschlecht und auf die heilige
Sitte keine solche Neuerungen einführt.

Unsere Klassenmoral hat uns zwar für die Not der „höheren
Tochter‟ die Augen geöffnet, die darin besteht, daß sie keinen Mann
bekommt, der sie ernähren kann, sondern daß sie sich selbst ernähren
muß, aber an der Not der Arbeiterin, die zwar ihren „natür-
lichen‟ Beruf, Gattin und Mutter zu sein, erfüllt, aber sich
trotzdem, ja oft gerade deswegen von früh bis spät in der
Schwindsuchtsatmosphäre der Fabrikräume abarbeiten muß —
daran gehen wir blinden Auges vorüber.

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[20/0021] herabgesunken sind, die aus ihrer Armut ein einträgliches Ge- werbe machen. Für die wohlthätige Frau ist es kein allzu großes Opfer, so und so viel Vereine durch ein paar Mark zu unterstützen, oder einige arme Familien aufzusuchen, die sie per- sönlich aus der Not zu befreien sucht. Sie beruhigt damit ihr Gewissen, während sie doch nur dann ein Recht zu einem ruhigen Gewissen hat, wenn sie neben der momentanen Hilfe für Einzelne den Blick auf das große Elend Aller richtet und auf Mittel und Wege sinnt, seine Ursachen zu beseitigen. Diese Art der Pflichterfüllung ist freilich weit schwerer als die, welche die Wohlthätigkeit von ihr fordert; sie verlangt ernste Studien, sie läßt für Diners und Bälle wenig Zeit übrig, und sie findet in der guten Gesellschaft keine Aner- kennung. Oder sollte es dieser Anstrengungen seitens der Frauen gar nicht bedürfen, weil die deutschen Männer ihnen nichts mehr zu thun übrig lassen? Sollte für die Wohlfahrt Aller unter dem deutschen Reichsadler besser gesorgt sein, als unter dem englischen Löwen, dem Sternenbanner Amerikas? Trockene Zahlen geben die Antwort darauf. Jn England giebt es vier Millionen, in Amerika drei Millionen und in Deutschland — 5500000 für ihren Erwerb arbeitende Frauen. Jn Sachsen sind 60 Prozent aller in Fabriken thätigen Personen Frauen. Jn England und Amerika sind weibliche Fabrik- Jnspektoren angestellt, während Deutschland, das von allen Staaten die meisten weiblichen Arbeiter beschäftigt, aus ritter- licher Rücksicht auf das schwache Geschlecht und auf die heilige Sitte keine solche Neuerungen einführt. Unsere Klassenmoral hat uns zwar für die Not der „höheren Tochter‟ die Augen geöffnet, die darin besteht, daß sie keinen Mann bekommt, der sie ernähren kann, sondern daß sie sich selbst ernähren muß, aber an der Not der Arbeiterin, die zwar ihren „natür- lichen‟ Beruf, Gattin und Mutter zu sein, erfüllt, aber sich trotzdem, ja oft gerade deswegen von früh bis spät in der Schwindsuchtsatmosphäre der Fabrikräume abarbeiten muß — daran gehen wir blinden Auges vorüber.

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Zitationshilfe: Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gizycki_buergerpflicht_1895/21>, abgerufen am 26.04.2024.