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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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sen die Dinge, aus denen sie gemacht ist?
Wie sehen sie aus? Wie heißen sie? Aber
die Erzählungen meiner Tante waren auch
nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte
mich in schöne Kleider und begegnete den al¬
lerliebsten Prinzen, die nicht ruhen noch ra¬
sten konnten, bis sie wußten, wer die unbe¬
kannte Schöne war. Ein ähnliches Aben¬
theuer mit einem reizenden kleinen Engel,
der im weißen Gewand und goldnen Flü¬
geln sich sehr um mich bemühte, setzte ich so
lange fort, daß meine Einbildungskraft sein
Bild fast bis zur Erscheinung erhöhte.

Nach Jahresfrist war ich ziemlich wieder
hergestellt; aber es war mir aus der Kind¬
heit nichts Wildes übrig geblieben. Ich
konnte nicht einmal mit Puppen spielen, ich
verlangte nach Wesen, die meine Liebe erwie¬
derten. Hunde, Katzen und Vögel, derglei¬
chen mein Vater von allen Arten ernährte,

ſen die Dinge, aus denen ſie gemacht iſt?
Wie ſehen ſie aus? Wie heißen ſie? Aber
die Erzählungen meiner Tante waren auch
nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte
mich in ſchöne Kleider und begegnete den al¬
lerliebſten Prinzen, die nicht ruhen noch ra¬
ſten konnten, bis ſie wußten, wer die unbe¬
kannte Schöne war. Ein ähnliches Aben¬
theuer mit einem reizenden kleinen Engel,
der im weißen Gewand und goldnen Flü¬
geln ſich ſehr um mich bemühte, ſetzte ich ſo
lange fort, daß meine Einbildungskraft ſein
Bild faſt bis zur Erſcheinung erhöhte.

Nach Jahresfriſt war ich ziemlich wieder
hergeſtellt; aber es war mir aus der Kind¬
heit nichts Wildes übrig geblieben. Ich
konnte nicht einmal mit Puppen ſpielen, ich
verlangte nach Weſen, die meine Liebe erwie¬
derten. Hunde, Katzen und Vögel, derglei¬
chen mein Vater von allen Arten ernährte,

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[210/0216] ſen die Dinge, aus denen ſie gemacht iſt? Wie ſehen ſie aus? Wie heißen ſie? Aber die Erzählungen meiner Tante waren auch nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte mich in ſchöne Kleider und begegnete den al¬ lerliebſten Prinzen, die nicht ruhen noch ra¬ ſten konnten, bis ſie wußten, wer die unbe¬ kannte Schöne war. Ein ähnliches Aben¬ theuer mit einem reizenden kleinen Engel, der im weißen Gewand und goldnen Flü¬ geln ſich ſehr um mich bemühte, ſetzte ich ſo lange fort, daß meine Einbildungskraft ſein Bild faſt bis zur Erſcheinung erhöhte. Nach Jahresfriſt war ich ziemlich wieder hergeſtellt; aber es war mir aus der Kind¬ heit nichts Wildes übrig geblieben. Ich konnte nicht einmal mit Puppen ſpielen, ich verlangte nach Weſen, die meine Liebe erwie¬ derten. Hunde, Katzen und Vögel, derglei¬ chen mein Vater von allen Arten ernährte,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/216>, abgerufen am 27.04.2024.