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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Man sieht, der Dichter schwelgt hier recht in seinen Lieblingsgedanken, pgo_354.002
die hier unter seinen Händen greifbare Gestalt gewinnen.

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Eine die Objektivität des Epos ganz verschattende Gewalt gewinnt pgo_354.004
indeß diese elegische Lyrik, diese Klage am frühen Grabe jugendlicher pgo_354.005
Helden und des heroischen Zeitalters überhaupt in den gälischen Gesängen pgo_354.006
Ossian's.
Jn seinen Hauptepen: "Fingal" und "Temora" pgo_354.007
ist die Behandlungsweise der klassischen Homer's vollkommen entgegengesetzt. pgo_354.008
Beide verherrlichen kriegerische Züge des Kaledonierhäuptlings pgo_354.009
nach Jrland: im erstern eilt Fingal einem bedrängten irischen Häuptling pgo_354.010
Kuchullin zu Hilfe; im zweiten rächt er die Ermordung des jungen pgo_354.011
Königs von Erin Kormak an seinem Mörder Kairba und schlägt das pgo_354.012
Heer Kathmor's in die Flucht. Es ist der Völkerkrieg der Jlias; aber pgo_354.013
wie träumerisch ist die Behandlung! Jm Nebel wogen die Gestalten pgo_354.014
durch einander, und nur flüchtig, wie ein sich durchkämpfender Sonnenstrahl, pgo_354.015
erhellt die Poesie Ossian's bald den einen, bald den andern pgo_354.016
seiner Helden! Der Komposition selbst fehlt es nicht an Einheit, aber pgo_354.017
das Jnteresse der Handlung geht ganz verloren in diesen lyrischen pgo_354.018
Schilderungen, welche eine träumerische Beleuchtung der Natur, eine pgo_354.019
träumerische Stimmung der Seele zum Mittelpunkte des Gedichtes pgo_354.020
machen, so daß die kämpfenden Helden selbst nur wie Schattenbilder pgo_354.021
erscheinen, wie "streitende Geister über Wolken gebeugt." Vergänglichkeit pgo_354.022
des Lebens und des Ruhmes -- das ist's, was Ossian's Seele am pgo_354.023
mächtigsten durchzittert, und so scheint es, als läßt er die Harfe aus der pgo_354.024
Hand gleiten, welche die Thaten der Helden feiert, ehe das Lied ausgesungen; pgo_354.025
denn die Wehmuth über die Nichtigkeit alles Jrdischen übermannt pgo_354.026
ihn:

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"Barde," sprach Kathmor, "was weckst Du mir pgo_354.028
Das Gedächtniß derer, die flohen? pgo_354.029
Hat sich ein Geist aus dem düstern Gewölk pgo_354.030
Zum Ohr dir geneigt, um so Kathmor pgo_354.031
Mit Sagen der Vorzeit zu schrecken? pgo_354.032
Jhr Bewohner der wolkigen Nacht, pgo_354.033
Eure Stimmen sind nur ein Hauch, pgo_354.034
Der das Haupt der Distel erfaßt pgo_354.035
Und ihren Bart auf die Bäche verstreut."

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/376>, abgerufen am 27.04.2024.