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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Glaubens. Doch wie abgeschwächt erscheint dieser bei Tasso, im pgo_362.002
Vergleich mit Dante! Wie frostig abstrakt, ähnlich den Göttern des pgo_362.003
Virgil, erscheinen bei ihm Gott und Teufel, die christlichen Merkure, die pgo_362.004
Engel, und der heidnische Hofstaat des Satans! Dagegen greift die pgo_362.005
Zauberei der Nekromanten thatkräftig in die Handlung ein, zu Ungunsten pgo_362.006
der Helden, welche ihre Siege oft nur durch Zaubergewalt davontragen. pgo_362.007
Die ariostischen Episoden, Rinaldo und Armida, die Zauberin, die von pgo_362.008
der Tigerin gesäugte Clorinde, die wilde Heidin, welcher eine späte pgo_362.009
Nothtaufe das Tigerblut heiligt, und Tankred, Episoden, von denen pgo_362.010
besonders die erstere fast zum Mittelpunkt der Handlung gemacht wird, pgo_362.011
wollen zum Ernste des gläubigen Kampfes nicht passen! Wie schwächlich pgo_362.012
sind diese Helden, der üppige Rinaldo, dessen Hauptthat, die Entzauberung pgo_362.013
des verrufenen Waldes, durchaus als eine innerliche Entsühnung pgo_362.014
erscheint, der sentimentale Tankred in seinem unritterlichen pgo_362.015
Jammer! Auch die Erfindungskraft des Dichters erscheint gering -- das pgo_362.016
Schema Virgil's und Homer's schwebt ihm fortwährend vor; eine große pgo_362.017
Zahl von Schilderungen erinnert bis in's Einzelne an die Gesänge des pgo_362.018
Schwans von Mantua, während die mehr phantastischen Bilder zum pgo_362.019
großen Theil der reichen Phantasie des Meisters Ludoviko und seiner pgo_362.020
Vorgänger entlehnt sind! Dennoch genügt das, was dem Tasso eigen, pgo_362.021
die Wärme eines romantischen Liebesgefühls, das weiche glänzende pgo_362.022
Kolorit der Darstellung und die unnachahmliche Magie einer in sehnsüchtigen pgo_362.023
und zauberischen Rhythmen ergossenen Sprache, seinem Heldengedicht pgo_362.024
eine dauernde nationale Bedeutung zu sichern. Wie Tasso steht pgo_362.025
auch Camoens an der Grenze des Mittelalters; aber wie jener den pgo_362.026
Blick rückwärts wendet, so dieser vorwärts in die Zukunft! Es ist das pgo_362.027
frische rührige Leben seefahrender Nationen,

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Die Zauberluft, die ihren Zug umwittert,

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die moderne Thatkraft und der Reiz exotischen Lebens, der seine "Lusiade," pgo_362.030
deren Mittelpunkt die Entdeckung Ostindiens durch Vasco de pgo_362.031
Gama ist, zur portugiesischen Nationaldichtung gemacht hat. Aber der pgo_362.032
wackere Krieger und Seemann, der frisch aus dem eigenen Erlebniß heraus pgo_362.033
dichtete, war wohl glücklich in der Schilderung, besonders in unübertrefflicher pgo_362.034
Seemalerei, aber unglücklich in eigenen reizvollen Erfindungen und pgo_362.035
seine wettergebräunte Muse vermischte mit der Ungenirtheit eines Seemannes,

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/384>, abgerufen am 28.04.2024.