Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Das XI. Capitel
heit nun müssen auch alle seine Gedichte schmecken. Jede
Zeile muß so zu reden zeugen, daß sie einen vernünftigen
Vater habe. Kein Wort, ja wenn es auch der Reim wä-
re, muß einen übeln Verdacht von dem Verstande dessen
erwecken, der es geschrieben hat. Das will Boileau, wenn
er schreibt:

Quelque sujet qu'on traite, ou plaisant, ou sublime,
Que toujours le Bonsens s' accorde avec la rime.
L'un l'autre vainement ils se semblent haeir,
La Rime est une esclave & ne doit qu'obeir.
- - - -
Aimez donc la Raison! Que toujours vos ecrits
Empruntent d' elle seule & leur lustre & leur prix.

Jch will noch ein Deutsches Zeugniß aus unserm Rachelius
anführen, der ausdrücklich in diesem Puncte die Vertheidi-
gung der Poeten in einer Satire über sich genommen. Er
klaget erstlich dem Tscherning seine Noth, daß man die
Poesie, die doch unter funfzigen kaum fünfen glücket, ihm
zum Vorwurfe gemacht habe. Hierauf setzt er hinzu:

Daß aber man so gar das gute darf beschmeissen,
Daß ein Poet ein Narr, ein Narr Poet muß heißen,
Das thut der Unverstand. Weil mancher Büffel zwar
Hat einen grossen Kopf, Gehirne nicht ein Haar.

Er giebt darauf zwar zu, daß die Poeten allezeit aufge-
räumte Köpfe gewesen, und zuweilen einen lustigen Einfall
nach dem andern vorgebracht; doch unterscheidet er sie von
unflätigen Possenreißern, die auch nur von dem Pöbel, der
gar nicht zu urtheilen weiß, unter die Poeten gemischet wor-
den. Alsdann setzt er hinzu, was er von einem Dichter
fordert.

Wer ein Poet will seyn, der sey ein solcher Mann,
Der mehr als Worte nur und Reime machen kan;
Der aus den Römern weiß, aus Griechen hat gesehen,
Was für gelahrt, beredt und sinnreich kan bestehen;
Der nicht die Zunge nur, nach seinem Willen rührt,
Der Vorrath im Gehirn, und Saltz im Munde führt;
Der durch den bleichen Fleiß aus Schrifften hat erfahren,
Was mercklichs ist geschehn vor vielmahl hundert Jahren;
Der

Das XI. Capitel
heit nun muͤſſen auch alle ſeine Gedichte ſchmecken. Jede
Zeile muß ſo zu reden zeugen, daß ſie einen vernuͤnftigen
Vater habe. Kein Wort, ja wenn es auch der Reim waͤ-
re, muß einen uͤbeln Verdacht von dem Verſtande deſſen
erwecken, der es geſchrieben hat. Das will Boileau, wenn
er ſchreibt:

Quelque ſujet qu’on traite, ou plaiſant, ou ſublime,
Que toujours le Bonſens ſ’ accorde avec la rime.
L’un l’autre vainement ils ſe ſemblent haîr,
La Rime eſt une eſclave & ne doit qu’obeir.
‒ ‒ ‒ ‒
Aimez donc la Raiſon! Que toujours vos ecrits
Empruntent d’ elle ſeule & leur luſtre & leur prix.

Jch will noch ein Deutſches Zeugniß aus unſerm Rachelius
anfuͤhren, der ausdruͤcklich in dieſem Puncte die Vertheidi-
gung der Poeten in einer Satire uͤber ſich genommen. Er
klaget erſtlich dem Tſcherning ſeine Noth, daß man die
Poeſie, die doch unter funfzigen kaum fuͤnfen gluͤcket, ihm
zum Vorwurfe gemacht habe. Hierauf ſetzt er hinzu:

Daß aber man ſo gar das gute darf beſchmeiſſen,
Daß ein Poet ein Narr, ein Narr Poet muß heißen,
Das thut der Unverſtand. Weil mancher Buͤffel zwar
Hat einen groſſen Kopf, Gehirne nicht ein Haar.

Er giebt darauf zwar zu, daß die Poeten allezeit aufge-
raͤumte Koͤpfe geweſen, und zuweilen einen luſtigen Einfall
nach dem andern vorgebracht; doch unterſcheidet er ſie von
unflaͤtigen Poſſenreißern, die auch nur von dem Poͤbel, der
gar nicht zu urtheilen weiß, unter die Poeten gemiſchet wor-
den. Alsdann ſetzt er hinzu, was er von einem Dichter
fordert.

Wer ein Poet will ſeyn, der ſey ein ſolcher Mann,
Der mehr als Worte nur und Reime machen kan;
Der aus den Roͤmern weiß, aus Griechen hat geſehen,
Was fuͤr gelahrt, beredt und ſinnreich kan beſtehen;
Der nicht die Zunge nur, nach ſeinem Willen ruͤhrt,
Der Vorrath im Gehirn, und Saltz im Munde fuͤhrt;
Der durch den bleichen Fleiß aus Schrifften hat erfahren,
Was mercklichs iſt geſchehn vor vielmahl hundert Jahren;
Der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0312" n="284"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das <hi rendition="#aq">XI.</hi> Capitel</hi></fw><lb/>
heit nun mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en auch alle &#x017F;eine Gedichte &#x017F;chmecken. Jede<lb/>
Zeile muß &#x017F;o zu reden zeugen, daß &#x017F;ie einen vernu&#x0364;nftigen<lb/>
Vater habe. Kein Wort, ja wenn es auch der Reim wa&#x0364;-<lb/>
re, muß einen u&#x0364;beln Verdacht von dem Ver&#x017F;tande de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
erwecken, der es ge&#x017F;chrieben hat. Das will Boileau, wenn<lb/>
er &#x017F;chreibt:</p><lb/>
          <cit>
            <quote> <hi rendition="#aq">Quelque &#x017F;ujet qu&#x2019;on traite, ou plai&#x017F;ant, ou &#x017F;ublime,<lb/>
Que toujours le Bon&#x017F;ens &#x017F;&#x2019; accorde avec la rime.<lb/>
L&#x2019;un l&#x2019;autre vainement ils &#x017F;e &#x017F;emblent haîr,<lb/>
La Rime e&#x017F;t une e&#x017F;clave &amp; ne doit qu&#x2019;obeir.<lb/>
&#x2012; &#x2012; &#x2012; &#x2012;<lb/>
Aimez donc la Rai&#x017F;on! Que toujours vos ecrits<lb/>
Empruntent d&#x2019; elle &#x017F;eule &amp; leur lu&#x017F;tre &amp; leur prix.</hi> </quote>
          </cit><lb/>
          <p>Jch will noch ein Deut&#x017F;ches Zeugniß aus un&#x017F;erm Rachelius<lb/>
anfu&#x0364;hren, der ausdru&#x0364;cklich in die&#x017F;em Puncte die Vertheidi-<lb/>
gung der Poeten in einer Satire u&#x0364;ber &#x017F;ich genommen. Er<lb/>
klaget er&#x017F;tlich dem T&#x017F;cherning &#x017F;eine Noth, daß man die<lb/>
Poe&#x017F;ie, die doch unter funfzigen kaum fu&#x0364;nfen glu&#x0364;cket, ihm<lb/>
zum Vorwurfe gemacht habe. Hierauf &#x017F;etzt er hinzu:</p><lb/>
          <cit>
            <quote>Daß aber man &#x017F;o gar das gute darf be&#x017F;chmei&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
Daß ein Poet ein Narr, ein Narr Poet muß heißen,<lb/>
Das thut der Unver&#x017F;tand. Weil mancher Bu&#x0364;ffel zwar<lb/>
Hat einen gro&#x017F;&#x017F;en Kopf, Gehirne nicht ein Haar.</quote>
          </cit><lb/>
          <p>Er giebt darauf zwar zu, daß die Poeten allezeit aufge-<lb/>
ra&#x0364;umte Ko&#x0364;pfe gewe&#x017F;en, und zuweilen einen lu&#x017F;tigen Einfall<lb/>
nach dem andern vorgebracht; doch unter&#x017F;cheidet er &#x017F;ie von<lb/>
unfla&#x0364;tigen Po&#x017F;&#x017F;enreißern, die auch nur von dem Po&#x0364;bel, der<lb/>
gar nicht zu urtheilen weiß, unter die Poeten gemi&#x017F;chet wor-<lb/>
den. Alsdann &#x017F;etzt er hinzu, was er von einem Dichter<lb/>
fordert.</p><lb/>
          <cit>
            <quote>Wer ein Poet will &#x017F;eyn, der &#x017F;ey ein &#x017F;olcher Mann,<lb/>
Der mehr als Worte nur und Reime machen kan;<lb/>
Der aus den Ro&#x0364;mern weiß, aus Griechen hat ge&#x017F;ehen,<lb/>
Was fu&#x0364;r gelahrt, beredt und &#x017F;innreich kan be&#x017F;tehen;<lb/>
Der nicht die Zunge nur, nach &#x017F;einem Willen ru&#x0364;hrt,<lb/><hi rendition="#fr">Der Vorrath im Gehirn, und Saltz im Munde fu&#x0364;hrt;</hi><lb/>
Der durch den bleichen Fleiß aus Schrifften hat erfahren,<lb/>
Was mercklichs i&#x017F;t ge&#x017F;chehn vor vielmahl hundert Jahren;<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/></quote>
          </cit>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[284/0312] Das XI. Capitel heit nun muͤſſen auch alle ſeine Gedichte ſchmecken. Jede Zeile muß ſo zu reden zeugen, daß ſie einen vernuͤnftigen Vater habe. Kein Wort, ja wenn es auch der Reim waͤ- re, muß einen uͤbeln Verdacht von dem Verſtande deſſen erwecken, der es geſchrieben hat. Das will Boileau, wenn er ſchreibt: Quelque ſujet qu’on traite, ou plaiſant, ou ſublime, Que toujours le Bonſens ſ’ accorde avec la rime. L’un l’autre vainement ils ſe ſemblent haîr, La Rime eſt une eſclave & ne doit qu’obeir. ‒ ‒ ‒ ‒ Aimez donc la Raiſon! Que toujours vos ecrits Empruntent d’ elle ſeule & leur luſtre & leur prix. Jch will noch ein Deutſches Zeugniß aus unſerm Rachelius anfuͤhren, der ausdruͤcklich in dieſem Puncte die Vertheidi- gung der Poeten in einer Satire uͤber ſich genommen. Er klaget erſtlich dem Tſcherning ſeine Noth, daß man die Poeſie, die doch unter funfzigen kaum fuͤnfen gluͤcket, ihm zum Vorwurfe gemacht habe. Hierauf ſetzt er hinzu: Daß aber man ſo gar das gute darf beſchmeiſſen, Daß ein Poet ein Narr, ein Narr Poet muß heißen, Das thut der Unverſtand. Weil mancher Buͤffel zwar Hat einen groſſen Kopf, Gehirne nicht ein Haar. Er giebt darauf zwar zu, daß die Poeten allezeit aufge- raͤumte Koͤpfe geweſen, und zuweilen einen luſtigen Einfall nach dem andern vorgebracht; doch unterſcheidet er ſie von unflaͤtigen Poſſenreißern, die auch nur von dem Poͤbel, der gar nicht zu urtheilen weiß, unter die Poeten gemiſchet wor- den. Alsdann ſetzt er hinzu, was er von einem Dichter fordert. Wer ein Poet will ſeyn, der ſey ein ſolcher Mann, Der mehr als Worte nur und Reime machen kan; Der aus den Roͤmern weiß, aus Griechen hat geſehen, Was fuͤr gelahrt, beredt und ſinnreich kan beſtehen; Der nicht die Zunge nur, nach ſeinem Willen ruͤhrt, Der Vorrath im Gehirn, und Saltz im Munde fuͤhrt; Der durch den bleichen Fleiß aus Schrifften hat erfahren, Was mercklichs iſt geſchehn vor vielmahl hundert Jahren; Der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/312
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/312>, abgerufen am 06.05.2024.