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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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tisches Ereigniß erklären, und das will ich thun! Dann werden Sie
einsichtig und also gerecht über sie urtheilen. Sehen Sie einmal den
Charakter und Gang unserer Welt im Allgemeinen an, seit der fran¬
zösischen Restauration; betrachten Sie die Ideen, den Geschmack, die
Tonart, die seitdem an Höfen, in der höchsten Gesellschaft -- und
also unbewußt auch in der niedrigsten -- herrschen und gefallen,
was finden Sie? Ueberall ist das Große und Erhabene geschwun¬
den, das Mäßige, das Anmuthige ist an die Stelle getreten; jenes
ist unbequem, wir vertragen es nicht, es macht uns zu klein, unsere
Gesellschaftswelt mag nicht erschüttert werden, sie will geschmeichelt,
geliebkost sein, die Talente sollen uns und unsere vielseitige, aber
schwache Bildung ausdrücken, nicht blos künstlerische Meisterschaft,
sondern ein Gemisch von Allem, -- ein artiges Betragen, gefällige
Eleganz, sittsame Zurückhaltung bei gehöriger Lebhaftigkeit, eine selbst¬
bewußte Bescheidenheit, -- kurz, die leibhafte Mlle. Sonntag; und
so ist sie denn ein Ausdruck des politisch-socialen Eklekticismus un¬
serer Zeit, die Künstlerin, wie unsere Zustände sie hervorbringen,
tragen, erlauben. Verstehen Sie, was ich meine? -- Vollkommen
versteh' ich Sie und gebe Ihnen vollkommen Recht! versetzte Gans,
ja, so ist eS, und ich wundre mich nur, daß ich das nicht längst ein¬
gesehen! --

Man lächelte über dies letztere Bekenntniß, und Ludwig Robert
meinte, das sei recht wie Gans, der keine seiner Schwächen je zu
verhehlen wisse und darin wahrhaft liebenswürdig sei. Gans aber
war von der neuen Erkenntniß sichtbar angeregt und bearbeitete sie
in seinen Gedanken weiter; nach einer kleinen Weile neigte er sich
zu Frau von Vamhagen und sprach leise mit ihr, doch nicht so leise,
daß ich nicht Alles deutlich gehört hätte. Recht gerne, lieber Gans,
und mit vielem Danke dazu, es wird mir eine große Ehre sein!
sagte Frau von Vamhagen freundlich und drückte ihm die Hand.
Er hatte sie nämlich gebeten, ihm den eben ausgesprochenen Gedan¬
ken abzulassen, er wolle ihn gern weiter entwickeln und einen kleinen
Aufsatz daraus machen; dergleichen müsse öffentlich ausgesprochen
werden. Wie auch geschah; denn wir lasen bald nachher in der
musikalischen Zeitung einen mit Eduard Gans unterschriebenen Artikel,
der in bekannter Weise darzuthun suchte, Mlle. Sonntag sei kein In¬
dividuum, sondern eine Begebenheit! --


tisches Ereigniß erklären, und das will ich thun! Dann werden Sie
einsichtig und also gerecht über sie urtheilen. Sehen Sie einmal den
Charakter und Gang unserer Welt im Allgemeinen an, seit der fran¬
zösischen Restauration; betrachten Sie die Ideen, den Geschmack, die
Tonart, die seitdem an Höfen, in der höchsten Gesellschaft — und
also unbewußt auch in der niedrigsten — herrschen und gefallen,
was finden Sie? Ueberall ist das Große und Erhabene geschwun¬
den, das Mäßige, das Anmuthige ist an die Stelle getreten; jenes
ist unbequem, wir vertragen es nicht, es macht uns zu klein, unsere
Gesellschaftswelt mag nicht erschüttert werden, sie will geschmeichelt,
geliebkost sein, die Talente sollen uns und unsere vielseitige, aber
schwache Bildung ausdrücken, nicht blos künstlerische Meisterschaft,
sondern ein Gemisch von Allem, — ein artiges Betragen, gefällige
Eleganz, sittsame Zurückhaltung bei gehöriger Lebhaftigkeit, eine selbst¬
bewußte Bescheidenheit, — kurz, die leibhafte Mlle. Sonntag; und
so ist sie denn ein Ausdruck des politisch-socialen Eklekticismus un¬
serer Zeit, die Künstlerin, wie unsere Zustände sie hervorbringen,
tragen, erlauben. Verstehen Sie, was ich meine? — Vollkommen
versteh' ich Sie und gebe Ihnen vollkommen Recht! versetzte Gans,
ja, so ist eS, und ich wundre mich nur, daß ich das nicht längst ein¬
gesehen! —

Man lächelte über dies letztere Bekenntniß, und Ludwig Robert
meinte, das sei recht wie Gans, der keine seiner Schwächen je zu
verhehlen wisse und darin wahrhaft liebenswürdig sei. Gans aber
war von der neuen Erkenntniß sichtbar angeregt und bearbeitete sie
in seinen Gedanken weiter; nach einer kleinen Weile neigte er sich
zu Frau von Vamhagen und sprach leise mit ihr, doch nicht so leise,
daß ich nicht Alles deutlich gehört hätte. Recht gerne, lieber Gans,
und mit vielem Danke dazu, es wird mir eine große Ehre sein!
sagte Frau von Vamhagen freundlich und drückte ihm die Hand.
Er hatte sie nämlich gebeten, ihm den eben ausgesprochenen Gedan¬
ken abzulassen, er wolle ihn gern weiter entwickeln und einen kleinen
Aufsatz daraus machen; dergleichen müsse öffentlich ausgesprochen
werden. Wie auch geschah; denn wir lasen bald nachher in der
musikalischen Zeitung einen mit Eduard Gans unterschriebenen Artikel,
der in bekannter Weise darzuthun suchte, Mlle. Sonntag sei kein In¬
dividuum, sondern eine Begebenheit! —


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[0210] tisches Ereigniß erklären, und das will ich thun! Dann werden Sie einsichtig und also gerecht über sie urtheilen. Sehen Sie einmal den Charakter und Gang unserer Welt im Allgemeinen an, seit der fran¬ zösischen Restauration; betrachten Sie die Ideen, den Geschmack, die Tonart, die seitdem an Höfen, in der höchsten Gesellschaft — und also unbewußt auch in der niedrigsten — herrschen und gefallen, was finden Sie? Ueberall ist das Große und Erhabene geschwun¬ den, das Mäßige, das Anmuthige ist an die Stelle getreten; jenes ist unbequem, wir vertragen es nicht, es macht uns zu klein, unsere Gesellschaftswelt mag nicht erschüttert werden, sie will geschmeichelt, geliebkost sein, die Talente sollen uns und unsere vielseitige, aber schwache Bildung ausdrücken, nicht blos künstlerische Meisterschaft, sondern ein Gemisch von Allem, — ein artiges Betragen, gefällige Eleganz, sittsame Zurückhaltung bei gehöriger Lebhaftigkeit, eine selbst¬ bewußte Bescheidenheit, — kurz, die leibhafte Mlle. Sonntag; und so ist sie denn ein Ausdruck des politisch-socialen Eklekticismus un¬ serer Zeit, die Künstlerin, wie unsere Zustände sie hervorbringen, tragen, erlauben. Verstehen Sie, was ich meine? — Vollkommen versteh' ich Sie und gebe Ihnen vollkommen Recht! versetzte Gans, ja, so ist eS, und ich wundre mich nur, daß ich das nicht längst ein¬ gesehen! — Man lächelte über dies letztere Bekenntniß, und Ludwig Robert meinte, das sei recht wie Gans, der keine seiner Schwächen je zu verhehlen wisse und darin wahrhaft liebenswürdig sei. Gans aber war von der neuen Erkenntniß sichtbar angeregt und bearbeitete sie in seinen Gedanken weiter; nach einer kleinen Weile neigte er sich zu Frau von Vamhagen und sprach leise mit ihr, doch nicht so leise, daß ich nicht Alles deutlich gehört hätte. Recht gerne, lieber Gans, und mit vielem Danke dazu, es wird mir eine große Ehre sein! sagte Frau von Vamhagen freundlich und drückte ihm die Hand. Er hatte sie nämlich gebeten, ihm den eben ausgesprochenen Gedan¬ ken abzulassen, er wolle ihn gern weiter entwickeln und einen kleinen Aufsatz daraus machen; dergleichen müsse öffentlich ausgesprochen werden. Wie auch geschah; denn wir lasen bald nachher in der musikalischen Zeitung einen mit Eduard Gans unterschriebenen Artikel, der in bekannter Weise darzuthun suchte, Mlle. Sonntag sei kein In¬ dividuum, sondern eine Begebenheit! —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/210>, abgerufen am 17.06.2024.