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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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willig hervor und geben sich alö die allein Schuldigen an, um die
Strafe von den Uebrigen abzuwenden. Wer weist, ob sie nicht gar
den Kaiser belogen und so ein neues Verbrechen begangen haben;
denn der Mensch ist böse von Natur und die Jugend zur Lüge und
Frechheit geneigt, während das reifere Alter durch heilsame Knuten-
hiebe schon mehr von den ursprünglichen Schlacken gereinigt ist.
Nicolaus durchschaut diese Komödie der Großmuth und läßt
seinen Sinn für Gerechtigkeit nicht beirren, sondern verurtheilt jeden
der fünf Rädelsführer zu fünfzig Stockstreichen und zum Dienst als
gemeiner Soldat im Kaukasus. In welchem andern Lande wird
das verletzte Ansehen des Priesters der Wissenschaft so nachdrücklich
gerächt? Welcher Professor sehnte sich nicht, wenn er dies hört, nach
einem russischen Lehrstuhl? Ein Custine, bei seiner koketten Empfind¬
samkeit würde das Urtheil hart nennen. Allein man bringe in An¬
schlag, daß kein Herz dabei mehr gelitten haben kann, als das des
Kaisers; denn, der Czar wird von den Russen als ihr Vater ange¬
sehen, sie schließen ihn in ihre Gebete ein und er selbst redet die
Soldaten "Meine Kinder!" an. Den ältern Brutus preist man,
hier aber will man das Opfer nicht anerkennen, das ein noch grö¬
ßerer Vater dem Staatswohl und der Gerechtigkeit bringt. Außer¬
dem zeigt dieser Fall von einer seltenen Gleichheit vor dem Gesetze:
denn die Schuldigen waren von Adel und wurden geprügelt wie
Leibeigene. Doch -- unsere Schreier wollen den wahren Liberalis¬
mus niemals da sehen, wo er wirklich ist.

Ebenfalls in Petersburg hatten sich zehn leibeigene Dienstboten
an ihrem Herrn, einem reichen Edelmann, thätlich vergriffen. Wohl¬
gemerkt, Leibeigene! Diese hängen mit ihrer Herrschaft inniger
zusammen, als die Miethlinge in jenen Ländern, wo die Bande der
Sittlichkeit und Treue längst aufgelöst sind und das Geld allein re¬
giert. Der russische Leibeigene genießt mehr materielles Glück, als
der englische Fabrikarbeiter, da sein Besitzer schon im eigenen Interesse
ihn nicht verhungern lassen wird -- es sei denn zur Strafe --in
geistiger Hinsicht aber führt er ein so paradiesisches Leben, daß man¬
cher Freiheitsheld ihn darum aufrichtig beneiden dürfte. Alle Verant¬
wortlichkeit, alle Sorge, alle Sehnsucht und Arbeit des Geistes ist
von ihm genommen; er hat sich nicht zu kümmern, was er werden
soll. Der Herr bestimmt ihn zum Handwerker, zum Kutscher, zum


willig hervor und geben sich alö die allein Schuldigen an, um die
Strafe von den Uebrigen abzuwenden. Wer weist, ob sie nicht gar
den Kaiser belogen und so ein neues Verbrechen begangen haben;
denn der Mensch ist böse von Natur und die Jugend zur Lüge und
Frechheit geneigt, während das reifere Alter durch heilsame Knuten-
hiebe schon mehr von den ursprünglichen Schlacken gereinigt ist.
Nicolaus durchschaut diese Komödie der Großmuth und läßt
seinen Sinn für Gerechtigkeit nicht beirren, sondern verurtheilt jeden
der fünf Rädelsführer zu fünfzig Stockstreichen und zum Dienst als
gemeiner Soldat im Kaukasus. In welchem andern Lande wird
das verletzte Ansehen des Priesters der Wissenschaft so nachdrücklich
gerächt? Welcher Professor sehnte sich nicht, wenn er dies hört, nach
einem russischen Lehrstuhl? Ein Custine, bei seiner koketten Empfind¬
samkeit würde das Urtheil hart nennen. Allein man bringe in An¬
schlag, daß kein Herz dabei mehr gelitten haben kann, als das des
Kaisers; denn, der Czar wird von den Russen als ihr Vater ange¬
sehen, sie schließen ihn in ihre Gebete ein und er selbst redet die
Soldaten „Meine Kinder!" an. Den ältern Brutus preist man,
hier aber will man das Opfer nicht anerkennen, das ein noch grö¬
ßerer Vater dem Staatswohl und der Gerechtigkeit bringt. Außer¬
dem zeigt dieser Fall von einer seltenen Gleichheit vor dem Gesetze:
denn die Schuldigen waren von Adel und wurden geprügelt wie
Leibeigene. Doch — unsere Schreier wollen den wahren Liberalis¬
mus niemals da sehen, wo er wirklich ist.

Ebenfalls in Petersburg hatten sich zehn leibeigene Dienstboten
an ihrem Herrn, einem reichen Edelmann, thätlich vergriffen. Wohl¬
gemerkt, Leibeigene! Diese hängen mit ihrer Herrschaft inniger
zusammen, als die Miethlinge in jenen Ländern, wo die Bande der
Sittlichkeit und Treue längst aufgelöst sind und das Geld allein re¬
giert. Der russische Leibeigene genießt mehr materielles Glück, als
der englische Fabrikarbeiter, da sein Besitzer schon im eigenen Interesse
ihn nicht verhungern lassen wird — es sei denn zur Strafe —in
geistiger Hinsicht aber führt er ein so paradiesisches Leben, daß man¬
cher Freiheitsheld ihn darum aufrichtig beneiden dürfte. Alle Verant¬
wortlichkeit, alle Sorge, alle Sehnsucht und Arbeit des Geistes ist
von ihm genommen; er hat sich nicht zu kümmern, was er werden
soll. Der Herr bestimmt ihn zum Handwerker, zum Kutscher, zum


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[0221] willig hervor und geben sich alö die allein Schuldigen an, um die Strafe von den Uebrigen abzuwenden. Wer weist, ob sie nicht gar den Kaiser belogen und so ein neues Verbrechen begangen haben; denn der Mensch ist böse von Natur und die Jugend zur Lüge und Frechheit geneigt, während das reifere Alter durch heilsame Knuten- hiebe schon mehr von den ursprünglichen Schlacken gereinigt ist. Nicolaus durchschaut diese Komödie der Großmuth und läßt seinen Sinn für Gerechtigkeit nicht beirren, sondern verurtheilt jeden der fünf Rädelsführer zu fünfzig Stockstreichen und zum Dienst als gemeiner Soldat im Kaukasus. In welchem andern Lande wird das verletzte Ansehen des Priesters der Wissenschaft so nachdrücklich gerächt? Welcher Professor sehnte sich nicht, wenn er dies hört, nach einem russischen Lehrstuhl? Ein Custine, bei seiner koketten Empfind¬ samkeit würde das Urtheil hart nennen. Allein man bringe in An¬ schlag, daß kein Herz dabei mehr gelitten haben kann, als das des Kaisers; denn, der Czar wird von den Russen als ihr Vater ange¬ sehen, sie schließen ihn in ihre Gebete ein und er selbst redet die Soldaten „Meine Kinder!" an. Den ältern Brutus preist man, hier aber will man das Opfer nicht anerkennen, das ein noch grö¬ ßerer Vater dem Staatswohl und der Gerechtigkeit bringt. Außer¬ dem zeigt dieser Fall von einer seltenen Gleichheit vor dem Gesetze: denn die Schuldigen waren von Adel und wurden geprügelt wie Leibeigene. Doch — unsere Schreier wollen den wahren Liberalis¬ mus niemals da sehen, wo er wirklich ist. Ebenfalls in Petersburg hatten sich zehn leibeigene Dienstboten an ihrem Herrn, einem reichen Edelmann, thätlich vergriffen. Wohl¬ gemerkt, Leibeigene! Diese hängen mit ihrer Herrschaft inniger zusammen, als die Miethlinge in jenen Ländern, wo die Bande der Sittlichkeit und Treue längst aufgelöst sind und das Geld allein re¬ giert. Der russische Leibeigene genießt mehr materielles Glück, als der englische Fabrikarbeiter, da sein Besitzer schon im eigenen Interesse ihn nicht verhungern lassen wird — es sei denn zur Strafe —in geistiger Hinsicht aber führt er ein so paradiesisches Leben, daß man¬ cher Freiheitsheld ihn darum aufrichtig beneiden dürfte. Alle Verant¬ wortlichkeit, alle Sorge, alle Sehnsucht und Arbeit des Geistes ist von ihm genommen; er hat sich nicht zu kümmern, was er werden soll. Der Herr bestimmt ihn zum Handwerker, zum Kutscher, zum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/221>, abgerufen am 17.06.2024.