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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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sche Leibeigene steht gesetzlich auf derselben Stufe, w,e ver Neger-
sclave in Nordamerika, in den französischen und ftüher in den eng¬
lischen Colomen. Allein die Sanftmuth und die Weichheit des russi¬
schen Charakters ist groß. In Rußland gibt es keine Todesstrafe,
selbst für den Leibeigenen nicht-,-- er wird blos geprügelt; wenn er es
nicht aushalten kann, so ist das seine Schuld, so ist das ein Unglück,
aber keine Grausamkeit. So mußten auch die zehn Leibeigenen blos
durch fünfhundert Mann Spießruthen laufen; einige waren zu ver¬
weichlicht, um die Züchtigung zu überleben, andere fielen sogar hin,
ehe sie die verordinirte Anzahl Hiebe erhalten hatten. Sie wurden
aber nicht aufgegeben, sondern wohlmeinend in ein Spital gebracht,
wo man ihre Wunden so weit heilen wird, daß sie den Rest der
vorgeschriebenen Prügelmedizin einnehmen können. Sterben sie, dann
ist dies ein Zeichen des Himmels, daß sie ihre Schuld abgebüßt
haben; wo nicht, wird man sie zur vollkommenen Heilung in den
sibirischen Bergwerken beschäftigen. Und mit unbedingter Oeffentlich-
keit, in Anwesenheit aller Leibeigenen von Petersburg, auf einem
Militärparadeplatzc wurde das Urtheil vollzogen; mit einer so ver-
nünftigen Justiz darf jeder Staat Parade machen. --

Ich frage aber: beurtheilt Custine, beurtheilt die deutsche Jour¬
nalistik so unbefangen die russischen Zustände? Ist man so billig, sich
auf den Standpunkt dessen zu stellen, den man kritisirt, sich in seine
Lage und Anschauungsweise hineinzudenken, ganz Russe zu sein in
russischen Angelegenheiten? Leider nicht. Wir haben feit einiger
Zeit die gerühmte deutsche Objectivetät schmählich verläugnet. Ueberall
nimmt man die Partei der "hirnlosen Polen," wie sie der Russe
treffend nennt, überall räsonnirt man über die schrecklichen Maßregeln,
welche die russische Regierung gegen die polnische Nationalität er¬
greift. Niemanden aber sällt der Gedanke ein, welch ein wahnsinni¬
ges Volk dies sein muß, das sich lieber lebendig schinden läßt, als
es nachgibt; gegen das man so grausenhafte Mittel anwenden muß,
um es zur Selbstverläugnung zu bringen und zu vernichten. Doch
ich will nicht an das Princip der Gerechtigkeit, nur an das der Klug¬
heit appelliren. Wäre es etwa ein Glück, wenn der polnische Reichs¬
tag noch jetzt im neunzehnten Jahrhundert fort deltrirte? Glaubt
man, die deutschen Kammern würden nicht auch von dem revolutio¬
nären Typhus, von der Cholera der Anarchie ergriffen werden, wie


sche Leibeigene steht gesetzlich auf derselben Stufe, w,e ver Neger-
sclave in Nordamerika, in den französischen und ftüher in den eng¬
lischen Colomen. Allein die Sanftmuth und die Weichheit des russi¬
schen Charakters ist groß. In Rußland gibt es keine Todesstrafe,
selbst für den Leibeigenen nicht-,— er wird blos geprügelt; wenn er es
nicht aushalten kann, so ist das seine Schuld, so ist das ein Unglück,
aber keine Grausamkeit. So mußten auch die zehn Leibeigenen blos
durch fünfhundert Mann Spießruthen laufen; einige waren zu ver¬
weichlicht, um die Züchtigung zu überleben, andere fielen sogar hin,
ehe sie die verordinirte Anzahl Hiebe erhalten hatten. Sie wurden
aber nicht aufgegeben, sondern wohlmeinend in ein Spital gebracht,
wo man ihre Wunden so weit heilen wird, daß sie den Rest der
vorgeschriebenen Prügelmedizin einnehmen können. Sterben sie, dann
ist dies ein Zeichen des Himmels, daß sie ihre Schuld abgebüßt
haben; wo nicht, wird man sie zur vollkommenen Heilung in den
sibirischen Bergwerken beschäftigen. Und mit unbedingter Oeffentlich-
keit, in Anwesenheit aller Leibeigenen von Petersburg, auf einem
Militärparadeplatzc wurde das Urtheil vollzogen; mit einer so ver-
nünftigen Justiz darf jeder Staat Parade machen. —

Ich frage aber: beurtheilt Custine, beurtheilt die deutsche Jour¬
nalistik so unbefangen die russischen Zustände? Ist man so billig, sich
auf den Standpunkt dessen zu stellen, den man kritisirt, sich in seine
Lage und Anschauungsweise hineinzudenken, ganz Russe zu sein in
russischen Angelegenheiten? Leider nicht. Wir haben feit einiger
Zeit die gerühmte deutsche Objectivetät schmählich verläugnet. Ueberall
nimmt man die Partei der „hirnlosen Polen," wie sie der Russe
treffend nennt, überall räsonnirt man über die schrecklichen Maßregeln,
welche die russische Regierung gegen die polnische Nationalität er¬
greift. Niemanden aber sällt der Gedanke ein, welch ein wahnsinni¬
ges Volk dies sein muß, das sich lieber lebendig schinden läßt, als
es nachgibt; gegen das man so grausenhafte Mittel anwenden muß,
um es zur Selbstverläugnung zu bringen und zu vernichten. Doch
ich will nicht an das Princip der Gerechtigkeit, nur an das der Klug¬
heit appelliren. Wäre es etwa ein Glück, wenn der polnische Reichs¬
tag noch jetzt im neunzehnten Jahrhundert fort deltrirte? Glaubt
man, die deutschen Kammern würden nicht auch von dem revolutio¬
nären Typhus, von der Cholera der Anarchie ergriffen werden, wie


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[0223] sche Leibeigene steht gesetzlich auf derselben Stufe, w,e ver Neger- sclave in Nordamerika, in den französischen und ftüher in den eng¬ lischen Colomen. Allein die Sanftmuth und die Weichheit des russi¬ schen Charakters ist groß. In Rußland gibt es keine Todesstrafe, selbst für den Leibeigenen nicht-,— er wird blos geprügelt; wenn er es nicht aushalten kann, so ist das seine Schuld, so ist das ein Unglück, aber keine Grausamkeit. So mußten auch die zehn Leibeigenen blos durch fünfhundert Mann Spießruthen laufen; einige waren zu ver¬ weichlicht, um die Züchtigung zu überleben, andere fielen sogar hin, ehe sie die verordinirte Anzahl Hiebe erhalten hatten. Sie wurden aber nicht aufgegeben, sondern wohlmeinend in ein Spital gebracht, wo man ihre Wunden so weit heilen wird, daß sie den Rest der vorgeschriebenen Prügelmedizin einnehmen können. Sterben sie, dann ist dies ein Zeichen des Himmels, daß sie ihre Schuld abgebüßt haben; wo nicht, wird man sie zur vollkommenen Heilung in den sibirischen Bergwerken beschäftigen. Und mit unbedingter Oeffentlich- keit, in Anwesenheit aller Leibeigenen von Petersburg, auf einem Militärparadeplatzc wurde das Urtheil vollzogen; mit einer so ver- nünftigen Justiz darf jeder Staat Parade machen. — Ich frage aber: beurtheilt Custine, beurtheilt die deutsche Jour¬ nalistik so unbefangen die russischen Zustände? Ist man so billig, sich auf den Standpunkt dessen zu stellen, den man kritisirt, sich in seine Lage und Anschauungsweise hineinzudenken, ganz Russe zu sein in russischen Angelegenheiten? Leider nicht. Wir haben feit einiger Zeit die gerühmte deutsche Objectivetät schmählich verläugnet. Ueberall nimmt man die Partei der „hirnlosen Polen," wie sie der Russe treffend nennt, überall räsonnirt man über die schrecklichen Maßregeln, welche die russische Regierung gegen die polnische Nationalität er¬ greift. Niemanden aber sällt der Gedanke ein, welch ein wahnsinni¬ ges Volk dies sein muß, das sich lieber lebendig schinden läßt, als es nachgibt; gegen das man so grausenhafte Mittel anwenden muß, um es zur Selbstverläugnung zu bringen und zu vernichten. Doch ich will nicht an das Princip der Gerechtigkeit, nur an das der Klug¬ heit appelliren. Wäre es etwa ein Glück, wenn der polnische Reichs¬ tag noch jetzt im neunzehnten Jahrhundert fort deltrirte? Glaubt man, die deutschen Kammern würden nicht auch von dem revolutio¬ nären Typhus, von der Cholera der Anarchie ergriffen werden, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/223>, abgerufen am 17.06.2024.