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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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mer so onkelhaft entgegennahm. Juste war noch immer das stille,
liebe, schweigsame Kind, nur machte mir die Weichheit ihres We¬
sens, so wie das ewig sehnsüchtige Schmachten ihres Blickes manch¬
mal bange für ihre Zukunft. Sie war selig, wie sie mir erzählte,
daß sie nicht mehr, wie früher, jeden Abend von der Arbeit gleich
nach Hause zu kommen brauche, sondern immer auf dem Wege noch
ihre Herzensfreundin besuchen könne. --- In diesem veränderten Zu¬
stande verließ ich die Familie im Frühjahr, um mich auf eine län¬
gere Reise zu begeben.




Ich kam nach Berlin zurück, zog in ein anderes Stadtviertel,
kam in ganz andere Verhältnisse, nahm mir anfangs vor, täglich
nach der Aleranderstraße zu gehen, ließ mich aber immer wieder durch
den weiten Weg und tausend andere Störungen davon zurückhalten.
ES ging mir wie mit allen Dingen, die man zu vernachlässigen an-
fängt: man schiebt sie so lange auf, bis die Vernachlässigung zur
Gewohnheit wird. So vergaß ich die armen Leute, die mein erster
Halt- und Stützpunkt in Berlin waren, als ich verlassen und ver¬
zweifelt in ihrem gemüthlichen Stübchen liebevolle Aufnahme fand.
Manchmal freilich regte sich in mir das Gewissen und auch das
Interesse und die Neugier, aber ich vertröstete mich dann auf echt
großstädtische Weise, vielleicht einmal Einem von ihnen auf der
Straß" zu begegnen. Aber vergebens; ich sah nicht einmal meinen
sogenannten Freund, den geheimnißvollen Baron, so daß bald meine
ganze Bekanntschaft mit ihm und der Schneiderfamilie nur noch
manchmal als ein dunkles Bild der Erinnerung in mir auftauchte.

Als ich nun im vorigen Sommer, also vier Jahre später,
eines Abends unter den Linden spazierte, sah ich eine hohe Frauen¬
gestalt in elegantem Sommercostüm, allein und langsam vor mir
herschreiten. Ich weiß nicht mehr, waren diese Umrisse mir gleich
bekannt, war es eine aufflammende Erinnerung, oder bloße Neugier,
ich folgte unwillkürlich nach. Am Opernhause schlüpfte ich leise an
ihr vorüber und drehte mich im Scheine der Laternen um, unsere
Blicke begegneten sich, eS war Charlotte. Ihre Kleider deuteten auf
eine Veränderung ihrer Stellung hin und etwas verlegen, wie ich
sie anreden sollte, blieb ich einen Augenblick stehen; dann trat ich
näher und fragte, ob sie mich noch kenne. Sie freute sich gleich


mer so onkelhaft entgegennahm. Juste war noch immer das stille,
liebe, schweigsame Kind, nur machte mir die Weichheit ihres We¬
sens, so wie das ewig sehnsüchtige Schmachten ihres Blickes manch¬
mal bange für ihre Zukunft. Sie war selig, wie sie mir erzählte,
daß sie nicht mehr, wie früher, jeden Abend von der Arbeit gleich
nach Hause zu kommen brauche, sondern immer auf dem Wege noch
ihre Herzensfreundin besuchen könne. —- In diesem veränderten Zu¬
stande verließ ich die Familie im Frühjahr, um mich auf eine län¬
gere Reise zu begeben.




Ich kam nach Berlin zurück, zog in ein anderes Stadtviertel,
kam in ganz andere Verhältnisse, nahm mir anfangs vor, täglich
nach der Aleranderstraße zu gehen, ließ mich aber immer wieder durch
den weiten Weg und tausend andere Störungen davon zurückhalten.
ES ging mir wie mit allen Dingen, die man zu vernachlässigen an-
fängt: man schiebt sie so lange auf, bis die Vernachlässigung zur
Gewohnheit wird. So vergaß ich die armen Leute, die mein erster
Halt- und Stützpunkt in Berlin waren, als ich verlassen und ver¬
zweifelt in ihrem gemüthlichen Stübchen liebevolle Aufnahme fand.
Manchmal freilich regte sich in mir das Gewissen und auch das
Interesse und die Neugier, aber ich vertröstete mich dann auf echt
großstädtische Weise, vielleicht einmal Einem von ihnen auf der
Straß« zu begegnen. Aber vergebens; ich sah nicht einmal meinen
sogenannten Freund, den geheimnißvollen Baron, so daß bald meine
ganze Bekanntschaft mit ihm und der Schneiderfamilie nur noch
manchmal als ein dunkles Bild der Erinnerung in mir auftauchte.

Als ich nun im vorigen Sommer, also vier Jahre später,
eines Abends unter den Linden spazierte, sah ich eine hohe Frauen¬
gestalt in elegantem Sommercostüm, allein und langsam vor mir
herschreiten. Ich weiß nicht mehr, waren diese Umrisse mir gleich
bekannt, war es eine aufflammende Erinnerung, oder bloße Neugier,
ich folgte unwillkürlich nach. Am Opernhause schlüpfte ich leise an
ihr vorüber und drehte mich im Scheine der Laternen um, unsere
Blicke begegneten sich, eS war Charlotte. Ihre Kleider deuteten auf
eine Veränderung ihrer Stellung hin und etwas verlegen, wie ich
sie anreden sollte, blieb ich einen Augenblick stehen; dann trat ich
näher und fragte, ob sie mich noch kenne. Sie freute sich gleich


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[0248] mer so onkelhaft entgegennahm. Juste war noch immer das stille, liebe, schweigsame Kind, nur machte mir die Weichheit ihres We¬ sens, so wie das ewig sehnsüchtige Schmachten ihres Blickes manch¬ mal bange für ihre Zukunft. Sie war selig, wie sie mir erzählte, daß sie nicht mehr, wie früher, jeden Abend von der Arbeit gleich nach Hause zu kommen brauche, sondern immer auf dem Wege noch ihre Herzensfreundin besuchen könne. —- In diesem veränderten Zu¬ stande verließ ich die Familie im Frühjahr, um mich auf eine län¬ gere Reise zu begeben. Ich kam nach Berlin zurück, zog in ein anderes Stadtviertel, kam in ganz andere Verhältnisse, nahm mir anfangs vor, täglich nach der Aleranderstraße zu gehen, ließ mich aber immer wieder durch den weiten Weg und tausend andere Störungen davon zurückhalten. ES ging mir wie mit allen Dingen, die man zu vernachlässigen an- fängt: man schiebt sie so lange auf, bis die Vernachlässigung zur Gewohnheit wird. So vergaß ich die armen Leute, die mein erster Halt- und Stützpunkt in Berlin waren, als ich verlassen und ver¬ zweifelt in ihrem gemüthlichen Stübchen liebevolle Aufnahme fand. Manchmal freilich regte sich in mir das Gewissen und auch das Interesse und die Neugier, aber ich vertröstete mich dann auf echt großstädtische Weise, vielleicht einmal Einem von ihnen auf der Straß« zu begegnen. Aber vergebens; ich sah nicht einmal meinen sogenannten Freund, den geheimnißvollen Baron, so daß bald meine ganze Bekanntschaft mit ihm und der Schneiderfamilie nur noch manchmal als ein dunkles Bild der Erinnerung in mir auftauchte. Als ich nun im vorigen Sommer, also vier Jahre später, eines Abends unter den Linden spazierte, sah ich eine hohe Frauen¬ gestalt in elegantem Sommercostüm, allein und langsam vor mir herschreiten. Ich weiß nicht mehr, waren diese Umrisse mir gleich bekannt, war es eine aufflammende Erinnerung, oder bloße Neugier, ich folgte unwillkürlich nach. Am Opernhause schlüpfte ich leise an ihr vorüber und drehte mich im Scheine der Laternen um, unsere Blicke begegneten sich, eS war Charlotte. Ihre Kleider deuteten auf eine Veränderung ihrer Stellung hin und etwas verlegen, wie ich sie anreden sollte, blieb ich einen Augenblick stehen; dann trat ich näher und fragte, ob sie mich noch kenne. Sie freute sich gleich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/248>, abgerufen am 17.06.2024.