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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Literaturbriese von F. Gustav Kühne.



Waldfräulein von Bedlitz. Vier Brüder aus dem VolK
von Josef Rank.



Nein, meine Freundin, es gibt noch Unschuld - auch in der
Literatur. In der Welt? Wer wollte das bezweifeln! Mit jedem
neuen Geschlecht, mit jedem neugeborenen Menschen wird eine neue
Anwartschaft zur Wahrheit gegeben, tritt die Möglichkeit zum reinen
Wandel von Neuem an's Licht. In dieser Unverwüstlichkeit liegt ja
das Heil der Menschheit. Diesen Glauben lasse sich Niemand neh-
men, und wenn Sie das nahe Weihnachtsfest feiern, meine Freundin,
feiern Sie es in diesem Sinne, und Sie werden, wenn der Mythus
nicht mehx ausreicht, im Bedürfniß der Menschennatur noch immex
Stoff genug zux festlichen Stimmung finden. Das Leben der Men-
schen steht überhaupt aus viel festeren Füßen, als was wix Literatur
nennen, diesex so gefürchtete ,,Coloß auf thönernen Beinen". Was
für das Menschenleben Noth thut, ist unabweislich, seine Hilfsquel-
len sind unerschöpflich. Selbst dex Staat, so oft ein Gebäude alter
Vorurtheile, ein Labyrinth morscher Baufälligkeiten, gehorcht dem Be-
dürfniß, dex Nothdurft und gewinnt annäherungsweise seinen Theil
an dex Wahrheit. Die Poesie eines Zeitalters ist weit mehr ein Be--
reich der Einbildungen. Wo die Menschen ihren Glauben und ihre
Wahrheit zux ^Schönheit entfalten sollten, sind sie nicht selten am un-
wahrsten und belügen sich aus Eigensinn oder Schwäche. Die
Kranken in der Einbildung sind bekanntlich die gefährlichsten, und die
Literatur manches Zeitalters erscheint in dex That wie ein hartnäcki-
gex Pallene, den man nicht gern aufgeben möchte und für den es


Grenzboten 1844. 1. 9^ ^
Literaturbriese von F. Gustav Kühne.



Waldfräulein von Bedlitz. Vier Brüder aus dem VolK
von Josef Rank.



Nein, meine Freundin, es gibt noch Unschuld - auch in der
Literatur. In der Welt? Wer wollte das bezweifeln! Mit jedem
neuen Geschlecht, mit jedem neugeborenen Menschen wird eine neue
Anwartschaft zur Wahrheit gegeben, tritt die Möglichkeit zum reinen
Wandel von Neuem an's Licht. In dieser Unverwüstlichkeit liegt ja
das Heil der Menschheit. Diesen Glauben lasse sich Niemand neh-
men, und wenn Sie das nahe Weihnachtsfest feiern, meine Freundin,
feiern Sie es in diesem Sinne, und Sie werden, wenn der Mythus
nicht mehx ausreicht, im Bedürfniß der Menschennatur noch immex
Stoff genug zux festlichen Stimmung finden. Das Leben der Men-
schen steht überhaupt aus viel festeren Füßen, als was wix Literatur
nennen, diesex so gefürchtete ,,Coloß auf thönernen Beinen". Was
für das Menschenleben Noth thut, ist unabweislich, seine Hilfsquel-
len sind unerschöpflich. Selbst dex Staat, so oft ein Gebäude alter
Vorurtheile, ein Labyrinth morscher Baufälligkeiten, gehorcht dem Be-
dürfniß, dex Nothdurft und gewinnt annäherungsweise seinen Theil
an dex Wahrheit. Die Poesie eines Zeitalters ist weit mehr ein Be--
reich der Einbildungen. Wo die Menschen ihren Glauben und ihre
Wahrheit zux ^Schönheit entfalten sollten, sind sie nicht selten am un-
wahrsten und belügen sich aus Eigensinn oder Schwäche. Die
Kranken in der Einbildung sind bekanntlich die gefährlichsten, und die
Literatur manches Zeitalters erscheint in dex That wie ein hartnäcki-
gex Pallene, den man nicht gern aufgeben möchte und für den es


Grenzboten 1844. 1. 9^ ^
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[0069] Literaturbriese von F. Gustav Kühne. Waldfräulein von Bedlitz. Vier Brüder aus dem VolK von Josef Rank. Nein, meine Freundin, es gibt noch Unschuld - auch in der Literatur. In der Welt? Wer wollte das bezweifeln! Mit jedem neuen Geschlecht, mit jedem neugeborenen Menschen wird eine neue Anwartschaft zur Wahrheit gegeben, tritt die Möglichkeit zum reinen Wandel von Neuem an's Licht. In dieser Unverwüstlichkeit liegt ja das Heil der Menschheit. Diesen Glauben lasse sich Niemand neh- men, und wenn Sie das nahe Weihnachtsfest feiern, meine Freundin, feiern Sie es in diesem Sinne, und Sie werden, wenn der Mythus nicht mehx ausreicht, im Bedürfniß der Menschennatur noch immex Stoff genug zux festlichen Stimmung finden. Das Leben der Men- schen steht überhaupt aus viel festeren Füßen, als was wix Literatur nennen, diesex so gefürchtete ,,Coloß auf thönernen Beinen". Was für das Menschenleben Noth thut, ist unabweislich, seine Hilfsquel- len sind unerschöpflich. Selbst dex Staat, so oft ein Gebäude alter Vorurtheile, ein Labyrinth morscher Baufälligkeiten, gehorcht dem Be- dürfniß, dex Nothdurft und gewinnt annäherungsweise seinen Theil an dex Wahrheit. Die Poesie eines Zeitalters ist weit mehr ein Be-- reich der Einbildungen. Wo die Menschen ihren Glauben und ihre Wahrheit zux ^Schönheit entfalten sollten, sind sie nicht selten am un- wahrsten und belügen sich aus Eigensinn oder Schwäche. Die Kranken in der Einbildung sind bekanntlich die gefährlichsten, und die Literatur manches Zeitalters erscheint in dex That wie ein hartnäcki- gex Pallene, den man nicht gern aufgeben möchte und für den es Grenzboten 1844. 1. 9^ ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/69>, abgerufen am 17.06.2024.