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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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frau verführt und ähnlichen hochpolitischen Dingen, die man in Cafe^
häusern in der Josephstadt, unter den Schauspielern oder beim sei.er^
hock unter den Börsenmäklern sich mit lüsternem Mundr erzählt. Virl^
leicht gibt er uns im zweiten Bande einen vollständigen Adreßkalender
der prostituirten Weiber in unserer Stadt; er srheint darin Sachkennt^
riß zu haben. Wer in solcher Gesellschaft sich bewegt, der kann allrr-
dings die Unsittlichkeit Wiens von der schwärzesten Seite schildern.
Ein Biograph der Königsmauer in Berlin, der rue de Helder in Pa-
ris, der Matrosenkneipen in Hamburg, des Steinwegs in Leipzig und
wie die unter dicken Weinreisenden und ausgemergelten Handlungs-
dienern renommirten Straßen der bezahlten Liebe alle heißen, würde
sicherlich noch mehr gelesen, als der alte Plutarch. Der Liebeshof zählt
in Wien eine gute Anzahl liederlicher Priesterinnen und schwelgerischer
Priester. Aber die Entstttlichung unserer Stadt steht darum aus kei-
ner größeren Stufe als in jeder andern großen Cit^. Ja, man darf
behaupten, daß die Entartung und das 'raffinirte Laster, das man in
Paris, in Se. Petersburg und selbst in Berlin sendet, Wien bei
Weitem überbietet. Der Grundzug des Oesterreichers und zumal des
Wieners ist Behaglichkeit, und wie alte Vergnügungslust bei uns ein^
facher, natürlicher als in Paris und Berlin ist, so auch in gewissen
speciellen unaussprechlichen Dingen. Der Wiener ist weniger geiht^
reich und erfinderisch als andere berühmte Großstädter; dies ist im
Punkt des Lasters ein Lobspruch. Man vergleiche überhaupt die Zahl
der Verbrecher und die Art der Verbrechen in Wien mit anderen
Städten gleichen Rangs und man wird bald die Erfahrung machen,
daß die Entsittlichung Wiens in weit engeren Grenzen sich bewegt als
anderswo. Wie es überhaupt zu wünschen ist, daß staiistische Tabellen
in Bezug auf Criminalverbrechen in ganz Deutschland veröffentlicht
würden, so möchten wir dies aus einem besonderen patriotischen Gefühl
noch für Oesterreich wünschen, weil wir das volle Vertrauen haben, daß
andere Nationen und unsere deutschen Mitbrüder dadurch das österrei^
chische Volk (ich meine hier besonders das deutsch-österreichische) in el^
nem bisher noch ungewürdigten Lichte erblicken müßten, das uns sicher^
lich nicht zum Nachtheile gereichen würde. - Eine andere Schrift über
Oesterreich ist seit meinem letzten Schreiben gleichfalls erschienen, sie
führt den stolzen Titel: ,,Böhmen und seine Zukunft,,*); ihr Verfas-
ser ist der Graf Schirnding. Es ist ein schwaches, unbedeutendes Pro-
duct; der Verfasser verlangt, Oesterreich soll eine slavische Poliiik zur
Grundlage seiner Regierungsprincipien machen, für welchen weisen Rath
wir Deutschen uns bei^ dem Herrn Grafen schönstens bedanken.

Wenn Sie sich übrigeus wundern, wie fo wir hier an courant



*) Wir erwähnten bereits dieser Schrift in Ur. 49 der Grenzboten. D. Red .
Grenzboten 1844. l. 10

frau verführt und ähnlichen hochpolitischen Dingen, die man in Cafe^
häusern in der Josephstadt, unter den Schauspielern oder beim sei.er^
hock unter den Börsenmäklern sich mit lüsternem Mundr erzählt. Virl^
leicht gibt er uns im zweiten Bande einen vollständigen Adreßkalender
der prostituirten Weiber in unserer Stadt; er srheint darin Sachkennt^
riß zu haben. Wer in solcher Gesellschaft sich bewegt, der kann allrr-
dings die Unsittlichkeit Wiens von der schwärzesten Seite schildern.
Ein Biograph der Königsmauer in Berlin, der rue de Helder in Pa-
ris, der Matrosenkneipen in Hamburg, des Steinwegs in Leipzig und
wie die unter dicken Weinreisenden und ausgemergelten Handlungs-
dienern renommirten Straßen der bezahlten Liebe alle heißen, würde
sicherlich noch mehr gelesen, als der alte Plutarch. Der Liebeshof zählt
in Wien eine gute Anzahl liederlicher Priesterinnen und schwelgerischer
Priester. Aber die Entstttlichung unserer Stadt steht darum aus kei-
ner größeren Stufe als in jeder andern großen Cit^. Ja, man darf
behaupten, daß die Entartung und das 'raffinirte Laster, das man in
Paris, in Se. Petersburg und selbst in Berlin sendet, Wien bei
Weitem überbietet. Der Grundzug des Oesterreichers und zumal des
Wieners ist Behaglichkeit, und wie alte Vergnügungslust bei uns ein^
facher, natürlicher als in Paris und Berlin ist, so auch in gewissen
speciellen unaussprechlichen Dingen. Der Wiener ist weniger geiht^
reich und erfinderisch als andere berühmte Großstädter; dies ist im
Punkt des Lasters ein Lobspruch. Man vergleiche überhaupt die Zahl
der Verbrecher und die Art der Verbrechen in Wien mit anderen
Städten gleichen Rangs und man wird bald die Erfahrung machen,
daß die Entsittlichung Wiens in weit engeren Grenzen sich bewegt als
anderswo. Wie es überhaupt zu wünschen ist, daß staiistische Tabellen
in Bezug auf Criminalverbrechen in ganz Deutschland veröffentlicht
würden, so möchten wir dies aus einem besonderen patriotischen Gefühl
noch für Oesterreich wünschen, weil wir das volle Vertrauen haben, daß
andere Nationen und unsere deutschen Mitbrüder dadurch das österrei^
chische Volk (ich meine hier besonders das deutsch-österreichische) in el^
nem bisher noch ungewürdigten Lichte erblicken müßten, das uns sicher^
lich nicht zum Nachtheile gereichen würde. - Eine andere Schrift über
Oesterreich ist seit meinem letzten Schreiben gleichfalls erschienen, sie
führt den stolzen Titel: ,,Böhmen und seine Zukunft,,*); ihr Verfas-
ser ist der Graf Schirnding. Es ist ein schwaches, unbedeutendes Pro-
duct; der Verfasser verlangt, Oesterreich soll eine slavische Poliiik zur
Grundlage seiner Regierungsprincipien machen, für welchen weisen Rath
wir Deutschen uns bei^ dem Herrn Grafen schönstens bedanken.

Wenn Sie sich übrigeus wundern, wie fo wir hier an courant



*) Wir erwähnten bereits dieser Schrift in Ur. 49 der Grenzboten. D. Red .
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/77>, abgerufen am 17.06.2024.