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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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zarter Redlichkeit. So lang es nicht seinen Leib achtet, werdet Ihr umsonst trach¬
ten, ihm begreiflich zu machen, daß es seine Seele achten soll.




Luft und Wasser sind die beiden überall gegenwärtigen vorsehenden Agenten
dieser äußern Reinlichkeit, die ein fast gewisses Anzeichen und wie ein Vorbote
der moralischen Reinheit ist. Laßt Luft und Wasser in Euren Städten frei und
reichlich kreisen; laßt sie in alle Behausungen dringen, und Ihr werdet staunen,
im Laufe weniger Jahre, wenn Ihr erkennt, daß Ihr die Gewissen gereinigt habt,
da, wo Ihr nichts anderes zu thun glaubtet, als die Atmosphäre zu reinigen.




Die Gewandten sagen, der Haufe spricht es nach, daß, um das Volk zu
gewinnen, man seinen verderbten Neigungen schmeicheln müsse und daß alles Ge¬
heimniß derer, die seinen Geist beherrschen, darin bestehe, seinen niedrigsten In-
stinkten zu gefallen. Diese verachtende Weisheit hat nur eins vergessen, das ist:
die Geschichte zu Rathe zu ziehen, welche durchaus für das Gegentheil zeugt.
Die meisten großen Bewegungen, welche sie entfaltet, die plötzlichen Entschließun¬
gen, deren Andenken sie bewahrt hat, sind durch ein großmüthiges Gefühl ein¬
gegeben. Ein Wort der Gerechtigkeit ertönt; tausend Rufe der Hingebung ant¬
worten ihm. Und wenn die Reinheit des ersten Aufschwungs in dem zu lang
gedehnten Kampfe oder im Siegesrausche sich trübt, ist es, weil die Leidenschaften
des Volkes so gut als unsere gelehrte Politik unter dem Gesetze der Unvollkom-
menheiten stehen, das in allen menschlichen Dingen waltet.




Die Hingebung ist beim Manne des Volkes nicht wie bei uns ein geistiger
Prunk oder ein Gefühlsadcl. Bei diesen kräftigen Organisationen, diesen ur¬
sprünglichen und herzhaften Naturen hängt sie mit Leib und Seele zusammen,
fließt mit dem Blute durch die Adern; es ist eine angeborene Hingebung, die sich
selbst unbewußt, aber von Gott gekannt ist.




Glücklicher als wir, hat das Volk in seiner energischen Einfachheit Begeiste¬
rungen, die uns versagt sind. Es gibt sich ganz dem hin, was es bewundert ;
es liebt oder haßt wahrhaft von ganzem Herzen; während unsere skeptischen See¬
len, innerer Zerrissenheit zum Raube, nicht anders mehr als fragmentarisch lieben
und hassen können. Wir sind immer nur dnrch einen Theil unseres Wesens hin.
gerissen. In Jedem von uns lebt ein innerer Komiker, der die Aufrichtigkeit un ¬
Serer Hingebung bespöttelt und durch seine Sarkasmen unsere stärksten Leiden¬
schaften zu Eis erstarrt.




Was man auch darüber denken möge, das Volk ist nicht neidisch aus In¬
stinkt; wird es nur durch Leiden. Wenn sein Dasein irgend erträglich ist, nimmt


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zarter Redlichkeit. So lang es nicht seinen Leib achtet, werdet Ihr umsonst trach¬
ten, ihm begreiflich zu machen, daß es seine Seele achten soll.




Luft und Wasser sind die beiden überall gegenwärtigen vorsehenden Agenten
dieser äußern Reinlichkeit, die ein fast gewisses Anzeichen und wie ein Vorbote
der moralischen Reinheit ist. Laßt Luft und Wasser in Euren Städten frei und
reichlich kreisen; laßt sie in alle Behausungen dringen, und Ihr werdet staunen,
im Laufe weniger Jahre, wenn Ihr erkennt, daß Ihr die Gewissen gereinigt habt,
da, wo Ihr nichts anderes zu thun glaubtet, als die Atmosphäre zu reinigen.




Die Gewandten sagen, der Haufe spricht es nach, daß, um das Volk zu
gewinnen, man seinen verderbten Neigungen schmeicheln müsse und daß alles Ge¬
heimniß derer, die seinen Geist beherrschen, darin bestehe, seinen niedrigsten In-
stinkten zu gefallen. Diese verachtende Weisheit hat nur eins vergessen, das ist:
die Geschichte zu Rathe zu ziehen, welche durchaus für das Gegentheil zeugt.
Die meisten großen Bewegungen, welche sie entfaltet, die plötzlichen Entschließun¬
gen, deren Andenken sie bewahrt hat, sind durch ein großmüthiges Gefühl ein¬
gegeben. Ein Wort der Gerechtigkeit ertönt; tausend Rufe der Hingebung ant¬
worten ihm. Und wenn die Reinheit des ersten Aufschwungs in dem zu lang
gedehnten Kampfe oder im Siegesrausche sich trübt, ist es, weil die Leidenschaften
des Volkes so gut als unsere gelehrte Politik unter dem Gesetze der Unvollkom-
menheiten stehen, das in allen menschlichen Dingen waltet.




Die Hingebung ist beim Manne des Volkes nicht wie bei uns ein geistiger
Prunk oder ein Gefühlsadcl. Bei diesen kräftigen Organisationen, diesen ur¬
sprünglichen und herzhaften Naturen hängt sie mit Leib und Seele zusammen,
fließt mit dem Blute durch die Adern; es ist eine angeborene Hingebung, die sich
selbst unbewußt, aber von Gott gekannt ist.




Glücklicher als wir, hat das Volk in seiner energischen Einfachheit Begeiste¬
rungen, die uns versagt sind. Es gibt sich ganz dem hin, was es bewundert ;
es liebt oder haßt wahrhaft von ganzem Herzen; während unsere skeptischen See¬
len, innerer Zerrissenheit zum Raube, nicht anders mehr als fragmentarisch lieben
und hassen können. Wir sind immer nur dnrch einen Theil unseres Wesens hin.
gerissen. In Jedem von uns lebt ein innerer Komiker, der die Aufrichtigkeit un ¬
Serer Hingebung bespöttelt und durch seine Sarkasmen unsere stärksten Leiden¬
schaften zu Eis erstarrt.




Was man auch darüber denken möge, das Volk ist nicht neidisch aus In¬
stinkt; wird es nur durch Leiden. Wenn sein Dasein irgend erträglich ist, nimmt


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[0513] zarter Redlichkeit. So lang es nicht seinen Leib achtet, werdet Ihr umsonst trach¬ ten, ihm begreiflich zu machen, daß es seine Seele achten soll. Luft und Wasser sind die beiden überall gegenwärtigen vorsehenden Agenten dieser äußern Reinlichkeit, die ein fast gewisses Anzeichen und wie ein Vorbote der moralischen Reinheit ist. Laßt Luft und Wasser in Euren Städten frei und reichlich kreisen; laßt sie in alle Behausungen dringen, und Ihr werdet staunen, im Laufe weniger Jahre, wenn Ihr erkennt, daß Ihr die Gewissen gereinigt habt, da, wo Ihr nichts anderes zu thun glaubtet, als die Atmosphäre zu reinigen. Die Gewandten sagen, der Haufe spricht es nach, daß, um das Volk zu gewinnen, man seinen verderbten Neigungen schmeicheln müsse und daß alles Ge¬ heimniß derer, die seinen Geist beherrschen, darin bestehe, seinen niedrigsten In- stinkten zu gefallen. Diese verachtende Weisheit hat nur eins vergessen, das ist: die Geschichte zu Rathe zu ziehen, welche durchaus für das Gegentheil zeugt. Die meisten großen Bewegungen, welche sie entfaltet, die plötzlichen Entschließun¬ gen, deren Andenken sie bewahrt hat, sind durch ein großmüthiges Gefühl ein¬ gegeben. Ein Wort der Gerechtigkeit ertönt; tausend Rufe der Hingebung ant¬ worten ihm. Und wenn die Reinheit des ersten Aufschwungs in dem zu lang gedehnten Kampfe oder im Siegesrausche sich trübt, ist es, weil die Leidenschaften des Volkes so gut als unsere gelehrte Politik unter dem Gesetze der Unvollkom- menheiten stehen, das in allen menschlichen Dingen waltet. Die Hingebung ist beim Manne des Volkes nicht wie bei uns ein geistiger Prunk oder ein Gefühlsadcl. Bei diesen kräftigen Organisationen, diesen ur¬ sprünglichen und herzhaften Naturen hängt sie mit Leib und Seele zusammen, fließt mit dem Blute durch die Adern; es ist eine angeborene Hingebung, die sich selbst unbewußt, aber von Gott gekannt ist. Glücklicher als wir, hat das Volk in seiner energischen Einfachheit Begeiste¬ rungen, die uns versagt sind. Es gibt sich ganz dem hin, was es bewundert ; es liebt oder haßt wahrhaft von ganzem Herzen; während unsere skeptischen See¬ len, innerer Zerrissenheit zum Raube, nicht anders mehr als fragmentarisch lieben und hassen können. Wir sind immer nur dnrch einen Theil unseres Wesens hin. gerissen. In Jedem von uns lebt ein innerer Komiker, der die Aufrichtigkeit un ¬ Serer Hingebung bespöttelt und durch seine Sarkasmen unsere stärksten Leiden¬ schaften zu Eis erstarrt. Was man auch darüber denken möge, das Volk ist nicht neidisch aus In¬ stinkt; wird es nur durch Leiden. Wenn sein Dasein irgend erträglich ist, nimmt 65*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/513>, abgerufen am 17.06.2024.