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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Morgen- und Abcndprocession, Reiter und Reiterinnen, vierspännige Kutschen und
flinke Gigs wirbeln leichten Stcinb auf. Die Hälfte der Spazierenden trägt
Trauerkleider; es ist Mode, die Trauerzeit entsetzlich lang auszudehnen, und häufig
wird das schwarze Gewand lediglich ans Oekonomie angelegt, denn der angeblich
Betrauerte ist ein Groß-Groß-Stiefvetter, der vor zehn Jahren in Calcutta das
Zeitliche gesegnet oder gar nie existirt hat. Mehr als eine junge Dame führt
selbst die Zügel ihres Tilbury und manche kühne Reiterin hat auf dem Sattel
ihrer Nase eine große Brille sitzen; ob der Brille ein blauer Strumpf am Bein
entspricht, läßt der lange Schlepprock nicht errathen. Je weiter die season vor¬
rückt, desto starker wird die Procession anschwellen, und feingeputzter Pöbel wird
durch seine confiscirten Physiognomien die Gesellschaft bunter färben, doch selbst
der Verschwender, der Wüstling, der Spieler, der Gauner, welcher sich für einen
Neffen des Herzogs von Blubberford oder des Marquis von Moonshine ausgibt,
-- alle werdeu äußerlich das ehrbar stille Wesen des echten Gentleman nachahmen
und so wenig Lärm machen als möglich.

Die vornehme Welt bietet also der Neugierde des Fremden, wenn er nicht
ausgedehnte Bekanntschaften hat, wenig Interessantes; seine Schaulust stößt überall
ans verhangene Fenster rü.d verschlossene Thüren. Dennoch vergehn mir die Tage
wie Minuten. Wenn ich des Essens, Spazierens und Plauderns müde bin, lege
ich mich auf den südlichen Abhang der Straße, auf den Strand, um mich zu
sonnen und zu träumen. Vor mir steht ein baumstarker Matrose mit ausgespreiz-
t.n Beinen; er hält einen kugelförmig gestalteten Fisch, den er eben gefangen hat,
mit den Fingern der linken Hand am Maul. "Kaufen Sie den Fisch, Sir, oder
eine" Penny für's Ansehen", grunzt er einige Mal, ohne sich vom Fleck zu rühren.
Sein breiter Oberleib verdeckt mir die schöne Aussicht, aber zwischen seinen Beinen
blicke ich weit in die Ferne und zähle eine Flotille von drei Segeln und einem
Dampfer, sogar ein Stückchen blauen Himmel über dem Horizont und ein gol¬
denes Sommerwölkchen daran kann ich erkennen, und eine Unzahl weißer Wellen¬
spitzen, die den grünen Plan des Meeres unterbrechen; alles zwischen den leben¬
digen Säulen des wandelnden Kolosses von Rhodus; und die faltigen weißen
Leinwandhosen, in der sanften Brise flatternd, sind ein passender Nahmen für das
kleine Secstück. Wie nennt Ihr das seltsame Thier, fragte ich aufstehend. --
Fisch. -- Ja, aber was für ein Fisch ist's? - Kann nicht sage", Sir -- Ihr
seid doch ein Engländer? -- Hin! meint er unschlüssig; ist schwer zu sagen, Sir
-- Ihr müßt doch wissen, wo Ihr geboren seid? -- O ja, ich glaub' nördliche
Breite 50°, Länge vergessen, an Bord der Katharine, Zweimaster, verdammt schö¬
nes Schiff, Sir, ging unter mit Mann und Maus, Sir, mich ausgenommen.
War keine fünf Jahr alt, Sir, ich nämlich, trägt mich ein verflixt dicker Balken
an's Land, in Wales. Seitdem zweimal Schiffbruch gelitten, ja Sir. -- Und
die Flagge der Katharine? -- Alle möglichen Flaggen, Sir, amerikanische, eng-


Morgen- und Abcndprocession, Reiter und Reiterinnen, vierspännige Kutschen und
flinke Gigs wirbeln leichten Stcinb auf. Die Hälfte der Spazierenden trägt
Trauerkleider; es ist Mode, die Trauerzeit entsetzlich lang auszudehnen, und häufig
wird das schwarze Gewand lediglich ans Oekonomie angelegt, denn der angeblich
Betrauerte ist ein Groß-Groß-Stiefvetter, der vor zehn Jahren in Calcutta das
Zeitliche gesegnet oder gar nie existirt hat. Mehr als eine junge Dame führt
selbst die Zügel ihres Tilbury und manche kühne Reiterin hat auf dem Sattel
ihrer Nase eine große Brille sitzen; ob der Brille ein blauer Strumpf am Bein
entspricht, läßt der lange Schlepprock nicht errathen. Je weiter die season vor¬
rückt, desto starker wird die Procession anschwellen, und feingeputzter Pöbel wird
durch seine confiscirten Physiognomien die Gesellschaft bunter färben, doch selbst
der Verschwender, der Wüstling, der Spieler, der Gauner, welcher sich für einen
Neffen des Herzogs von Blubberford oder des Marquis von Moonshine ausgibt,
— alle werdeu äußerlich das ehrbar stille Wesen des echten Gentleman nachahmen
und so wenig Lärm machen als möglich.

Die vornehme Welt bietet also der Neugierde des Fremden, wenn er nicht
ausgedehnte Bekanntschaften hat, wenig Interessantes; seine Schaulust stößt überall
ans verhangene Fenster rü.d verschlossene Thüren. Dennoch vergehn mir die Tage
wie Minuten. Wenn ich des Essens, Spazierens und Plauderns müde bin, lege
ich mich auf den südlichen Abhang der Straße, auf den Strand, um mich zu
sonnen und zu träumen. Vor mir steht ein baumstarker Matrose mit ausgespreiz-
t.n Beinen; er hält einen kugelförmig gestalteten Fisch, den er eben gefangen hat,
mit den Fingern der linken Hand am Maul. „Kaufen Sie den Fisch, Sir, oder
eine» Penny für's Ansehen", grunzt er einige Mal, ohne sich vom Fleck zu rühren.
Sein breiter Oberleib verdeckt mir die schöne Aussicht, aber zwischen seinen Beinen
blicke ich weit in die Ferne und zähle eine Flotille von drei Segeln und einem
Dampfer, sogar ein Stückchen blauen Himmel über dem Horizont und ein gol¬
denes Sommerwölkchen daran kann ich erkennen, und eine Unzahl weißer Wellen¬
spitzen, die den grünen Plan des Meeres unterbrechen; alles zwischen den leben¬
digen Säulen des wandelnden Kolosses von Rhodus; und die faltigen weißen
Leinwandhosen, in der sanften Brise flatternd, sind ein passender Nahmen für das
kleine Secstück. Wie nennt Ihr das seltsame Thier, fragte ich aufstehend. —
Fisch. — Ja, aber was für ein Fisch ist's? - Kann nicht sage», Sir — Ihr
seid doch ein Engländer? — Hin! meint er unschlüssig; ist schwer zu sagen, Sir
— Ihr müßt doch wissen, wo Ihr geboren seid? -- O ja, ich glaub' nördliche
Breite 50°, Länge vergessen, an Bord der Katharine, Zweimaster, verdammt schö¬
nes Schiff, Sir, ging unter mit Mann und Maus, Sir, mich ausgenommen.
War keine fünf Jahr alt, Sir, ich nämlich, trägt mich ein verflixt dicker Balken
an's Land, in Wales. Seitdem zweimal Schiffbruch gelitten, ja Sir. — Und
die Flagge der Katharine? — Alle möglichen Flaggen, Sir, amerikanische, eng-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/506>, abgerufen am 16.06.2024.