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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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denzen jener zweiten Phase in der vollständigsten Zerfahrenheit. Wenn im Anfang
nur, die charakterlose Genialität den Atta Troll's der Philisterwelt als das allein
Berechtigte vorgehalten wurde, so findet das junge Deutschland zuletzt eine specielle
Befriedigung darin, auch das absolut Unbedeutende zu emancipiren und so mit
der letzten Convenienz der Romantik zu brechen. Wenn die Nachläufer der Ro¬
mantik, wie Hoffmann u. s. w., mit besonderer Vorliebe die Nachtseite der mensch¬
lichen Natur schilderten, um durch das Unheimliche, Grauenvolle und Fratzenhafte
einen tragischen oder humoristischen Eindruck zu machen, wenn dieser Eindruck
auch zuletzt ein blos physischer war, so begnügen sich die Epigonen mit dem
Häßlichen, dem Widerlicher und dem Verdrehten an sich, ohne weitere diabolische
oder humoristische Jdealisirung; nicht allein die Probleme, die sie sich stellen,
sind bis zur Unsittlichkeit verschroben, sondern auch ihre Charaktere, die unmög¬
liche Contraste vereinigen sollen. Bei Bulwer, der mit einer gewissen pragmati¬
schen Gründlichkeit zu Werke geht, fallen diese Widersprüche noch mehr auf, als
bei den liederlichen Zeichnungen der deutschen Schule; wir sehen eine eigentlich
sehr nüchterne Natur vor uns, die sich in eine künstliche Exaltation forcirt.

Von seinen Romanen ist Eugen Aram, der übrigens in künstlerischer Be¬
ziehung der abgerundetste ist, ein deutlicher Beleg für diese Behauptung. Mau
hat ein zu großes Gewicht aus die Jmmoralität dieser Erzählung gelegt, und es
ist zuletzt so herausgekommen, als habe Bulwer den Raubmord, wenn er an einem
schlechten Menschen, der mit seinein Gelde böse Zwecke verfolgt, ausgeübt würde,
überhaupt rechtfertigen wollen, nach dem socialistischen Grundsatz: Eigenthum ist
Diebstahl. Gegen diesen Vorwurf wird er sich leicht dadurch rechtfertigen können,
daß er keine allgemeine Regel, sondern nur eine individuelle Krankheitsgeschichte
gibt; aber die auf diesem Wege beseitigte Jmmoralität kehrt durch einen zweiten
Vorwurf zurück, gegen den er sich nicht vertheidigen kann, durch den Vorwurf der
psychologischen Unwahrheit. Ein Mann von so erhabenen Empfindungen und
einem so weiten wissenschaftlichen Blick, wie er Eugen Aram zu schildern versucht,
kann niemals auf die Idee eiues Verbrechens kommen, welches die öffentliche
Meinung ebenso wie das Gesetz mit dem Makel der Infamie behaftet. Er wird
in der Leidenschaft vielleicht zu einem Verbrechen getrieben werden können, welches
vor den Angen Gottes schlimmer ist, als der Raubmord, aber nie zu einem infa-
mirendeu Verbrechen. Es ist das jene geheime, in ihren Einzelheiten kaum sicht¬
bare, aber um so unerschütterlichere Gewalt, mit welcher die moralischen Principien
sich durch ästhetische Vermittelung bei uns einführen. Man kann böse sein und
doch noch großer Empfindungen fähig; der Ehrlose ist es nicht mehr. Bulwer
hat durch seine Jdealisirung einer wirklichen Criminalgeschichte die Wahrheit der¬
selben verdreht. Der wirkliche Eugen Aram war ein einfältiger Schulmeister, der
von der Monomanie des Büchersammelns ergriffen war nud durch diese Mono¬
manie allerdings zum Raubmord getrieben wurde. Es ist in djeser Geschichte


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denzen jener zweiten Phase in der vollständigsten Zerfahrenheit. Wenn im Anfang
nur, die charakterlose Genialität den Atta Troll's der Philisterwelt als das allein
Berechtigte vorgehalten wurde, so findet das junge Deutschland zuletzt eine specielle
Befriedigung darin, auch das absolut Unbedeutende zu emancipiren und so mit
der letzten Convenienz der Romantik zu brechen. Wenn die Nachläufer der Ro¬
mantik, wie Hoffmann u. s. w., mit besonderer Vorliebe die Nachtseite der mensch¬
lichen Natur schilderten, um durch das Unheimliche, Grauenvolle und Fratzenhafte
einen tragischen oder humoristischen Eindruck zu machen, wenn dieser Eindruck
auch zuletzt ein blos physischer war, so begnügen sich die Epigonen mit dem
Häßlichen, dem Widerlicher und dem Verdrehten an sich, ohne weitere diabolische
oder humoristische Jdealisirung; nicht allein die Probleme, die sie sich stellen,
sind bis zur Unsittlichkeit verschroben, sondern auch ihre Charaktere, die unmög¬
liche Contraste vereinigen sollen. Bei Bulwer, der mit einer gewissen pragmati¬
schen Gründlichkeit zu Werke geht, fallen diese Widersprüche noch mehr auf, als
bei den liederlichen Zeichnungen der deutschen Schule; wir sehen eine eigentlich
sehr nüchterne Natur vor uns, die sich in eine künstliche Exaltation forcirt.

Von seinen Romanen ist Eugen Aram, der übrigens in künstlerischer Be¬
ziehung der abgerundetste ist, ein deutlicher Beleg für diese Behauptung. Mau
hat ein zu großes Gewicht aus die Jmmoralität dieser Erzählung gelegt, und es
ist zuletzt so herausgekommen, als habe Bulwer den Raubmord, wenn er an einem
schlechten Menschen, der mit seinein Gelde böse Zwecke verfolgt, ausgeübt würde,
überhaupt rechtfertigen wollen, nach dem socialistischen Grundsatz: Eigenthum ist
Diebstahl. Gegen diesen Vorwurf wird er sich leicht dadurch rechtfertigen können,
daß er keine allgemeine Regel, sondern nur eine individuelle Krankheitsgeschichte
gibt; aber die auf diesem Wege beseitigte Jmmoralität kehrt durch einen zweiten
Vorwurf zurück, gegen den er sich nicht vertheidigen kann, durch den Vorwurf der
psychologischen Unwahrheit. Ein Mann von so erhabenen Empfindungen und
einem so weiten wissenschaftlichen Blick, wie er Eugen Aram zu schildern versucht,
kann niemals auf die Idee eiues Verbrechens kommen, welches die öffentliche
Meinung ebenso wie das Gesetz mit dem Makel der Infamie behaftet. Er wird
in der Leidenschaft vielleicht zu einem Verbrechen getrieben werden können, welches
vor den Angen Gottes schlimmer ist, als der Raubmord, aber nie zu einem infa-
mirendeu Verbrechen. Es ist das jene geheime, in ihren Einzelheiten kaum sicht¬
bare, aber um so unerschütterlichere Gewalt, mit welcher die moralischen Principien
sich durch ästhetische Vermittelung bei uns einführen. Man kann böse sein und
doch noch großer Empfindungen fähig; der Ehrlose ist es nicht mehr. Bulwer
hat durch seine Jdealisirung einer wirklichen Criminalgeschichte die Wahrheit der¬
selben verdreht. Der wirkliche Eugen Aram war ein einfältiger Schulmeister, der
von der Monomanie des Büchersammelns ergriffen war nud durch diese Mono¬
manie allerdings zum Raubmord getrieben wurde. Es ist in djeser Geschichte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/135>, abgerufen am 28.05.2024.