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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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nichts Poetisches, aber auch nichts Unwahres; wenn sich der Dichter aber das
Problem stellt, eine nur bei ganz abnormer Geistesverwirrung mögliche That.aus
einem wohlgeformten edlen Gemüth heraus zu construiren, so tritt mit der Ver¬
kehrung der psychologischen Wahrheit zugleich ein sehr häßlicher moralischer
Eindruck ein.

Daß überhaupt die neuern Romanschreiber den Stoff ihrer Novellen gern
aus Criminalgeschichten nehmen, ist leicht aus der Spannung des Geheimnisses
zu erklären, die in der Regel solchen vsusos völebres einen romantischen Reiz
verleiht; doch hatte man sich in früherer Zeit mit der äußerlichen Spannung be¬
gnügt, und der Held, für welchen das Publicum sich interessiren sollte, war nicht
der wirkliche Missethäter, sondern entweder der Beschädigte, oder der unschuldig
Angeklagte. Schiller's Räuber haben sehr wesentlich dahin gewirkt, dieses Ver¬
hältniß umzukehren, und was bei ihm nichts war als eine Jugendverirrung,
wurde bei seinen Nachahmern zur fixen Idee. Jener Geist der Philanthropie und
Humanität, welcher sich im Anfang mit voller Berechtigung "ut segensreicher
Wirkung aus die menschlichere Behandlung der Verbrecher bezog, auf die Milde¬
rung der entsetzlichen Strafen des vorigen Jahrhunderts, aus die Verbesserung
der Gefängnisse und dergleichen, nicht im Interesse der Verbrecher, sondern im
Interesse der Gesellschaft, verirrte sich zuletzt so weit, daß er in dem Verbrecher,
wie mancher Anatom in der physischen Difformität, den eigentlich interessanten
Gegenstand der Beobachtung fand, daß er in der Anlage zum Verbrechen eine
gewisse Genialität suchte und den Teufel auf Kosten Gottes zu Ehren brachte.
Wenn Byron in seinem Kain sich Lucifers gegen Gott annimmt, so ist da¬
mit ein sehr bestimmter Gott gemeint, gegen den man allerdings sehr erhebliche
Ausstellungen jmachen kann, und insofern der Teufel Recht hat, Hort er auf, Teufel
zu sein. Aber bei vielen der neuern Franzosen und auch bei manchen der vorge¬
schrittenem Engländer ist geradezu das Böse das Gute, so wie das Häßliche das
Schöne. So schlimm ist's bei Bulwer allerdings nicht; er weiß noch immer das
Eine vom Andern zu unterscheiden, aber er fehlt durch die Ueberspannung seines
Idealismus, welcher Unmöglichkeiten zu umfassen strebt; und diese weltumfassende
Toleranz muß zuletzt siech, unsittlich und sentimental werden. -- Was in Engen
Arom am ausführlichsten dargestellt ist, gilt ebenso von Paul Clifford, wo ein
Straßenräuber, von Devereux, wo ein Fälscher, von Nacht und Morgen, wo ein
Gauner und Falschmünzer beschönigt wird, bis sich endlich die Lucrezia geradezu
mit einer Gesellschaft von Giftmischern beschäftigt. Charakteristisch ist eS für den
Engländer, daß die Emancipation der Unsittlichkeit sich nicht bis auf den Ehe¬
bruch ausdehnt; in diesem Punkt versteht die englische Gesellschaft keinen Spaß. --
Bei den spätern Ränber- und DiebSromanen, z. B. bei Jack Sheppard, ist von
einem psychologischen Problem nicht mehr die Rede. Es ist hier das reine fratzen¬
hafte Vergnügen am Häßlichen und Grauenvollen.


nichts Poetisches, aber auch nichts Unwahres; wenn sich der Dichter aber das
Problem stellt, eine nur bei ganz abnormer Geistesverwirrung mögliche That.aus
einem wohlgeformten edlen Gemüth heraus zu construiren, so tritt mit der Ver¬
kehrung der psychologischen Wahrheit zugleich ein sehr häßlicher moralischer
Eindruck ein.

Daß überhaupt die neuern Romanschreiber den Stoff ihrer Novellen gern
aus Criminalgeschichten nehmen, ist leicht aus der Spannung des Geheimnisses
zu erklären, die in der Regel solchen vsusos völebres einen romantischen Reiz
verleiht; doch hatte man sich in früherer Zeit mit der äußerlichen Spannung be¬
gnügt, und der Held, für welchen das Publicum sich interessiren sollte, war nicht
der wirkliche Missethäter, sondern entweder der Beschädigte, oder der unschuldig
Angeklagte. Schiller's Räuber haben sehr wesentlich dahin gewirkt, dieses Ver¬
hältniß umzukehren, und was bei ihm nichts war als eine Jugendverirrung,
wurde bei seinen Nachahmern zur fixen Idee. Jener Geist der Philanthropie und
Humanität, welcher sich im Anfang mit voller Berechtigung »ut segensreicher
Wirkung aus die menschlichere Behandlung der Verbrecher bezog, auf die Milde¬
rung der entsetzlichen Strafen des vorigen Jahrhunderts, aus die Verbesserung
der Gefängnisse und dergleichen, nicht im Interesse der Verbrecher, sondern im
Interesse der Gesellschaft, verirrte sich zuletzt so weit, daß er in dem Verbrecher,
wie mancher Anatom in der physischen Difformität, den eigentlich interessanten
Gegenstand der Beobachtung fand, daß er in der Anlage zum Verbrechen eine
gewisse Genialität suchte und den Teufel auf Kosten Gottes zu Ehren brachte.
Wenn Byron in seinem Kain sich Lucifers gegen Gott annimmt, so ist da¬
mit ein sehr bestimmter Gott gemeint, gegen den man allerdings sehr erhebliche
Ausstellungen jmachen kann, und insofern der Teufel Recht hat, Hort er auf, Teufel
zu sein. Aber bei vielen der neuern Franzosen und auch bei manchen der vorge¬
schrittenem Engländer ist geradezu das Böse das Gute, so wie das Häßliche das
Schöne. So schlimm ist's bei Bulwer allerdings nicht; er weiß noch immer das
Eine vom Andern zu unterscheiden, aber er fehlt durch die Ueberspannung seines
Idealismus, welcher Unmöglichkeiten zu umfassen strebt; und diese weltumfassende
Toleranz muß zuletzt siech, unsittlich und sentimental werden. — Was in Engen
Arom am ausführlichsten dargestellt ist, gilt ebenso von Paul Clifford, wo ein
Straßenräuber, von Devereux, wo ein Fälscher, von Nacht und Morgen, wo ein
Gauner und Falschmünzer beschönigt wird, bis sich endlich die Lucrezia geradezu
mit einer Gesellschaft von Giftmischern beschäftigt. Charakteristisch ist eS für den
Engländer, daß die Emancipation der Unsittlichkeit sich nicht bis auf den Ehe¬
bruch ausdehnt; in diesem Punkt versteht die englische Gesellschaft keinen Spaß. —
Bei den spätern Ränber- und DiebSromanen, z. B. bei Jack Sheppard, ist von
einem psychologischen Problem nicht mehr die Rede. Es ist hier das reine fratzen¬
hafte Vergnügen am Häßlichen und Grauenvollen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/136>, abgerufen am 29.05.2024.